Wegen Korruptionsvorwürfen sind in dieser Woche mehr als ein Dutzend hochrangige Amtsträger vom ukrainischen Präsidenten entlassen worden oder haben ihren Rücktritt eingereicht.
Selenskyj hat offenbar begriffen, dass ohne glaubwürdiges Durchgreifen gegen tief eingefleischte korrupte Praktiken langfristig auch die Unterstützung des Westens im Kampf gegen die russische Invasion ins Wanken käme. Die Ukraine rangiert in der Rangliste von Transparency International nur knapp vor Russland.
Eigentlich hatte man sich schon etwas gewundert, weshalb das Thema Korruption im intensiven Nachrichtenstrom über den Ukraine-Krieg nur selten zur Sprache kam. Am ehesten noch war davon die Rede, wenn nach Erklärungen gesucht wurde, weshalb es Putins vermeintlich weit überlegenen Streitkräften nicht gelungen ist, die Ukraine nach dem Angriff vom 24. Februar in kurzer Zeit militärisch zu überrennen und unter Kontrolle zu bringen. Vieles spricht für die These, dass die milliardenschweren Geldflüsse, die der Kreml in den vergangenen Jahren in die Modernisierung und den Ausbau des postsowjetischen Militärs gesteckt hat, zu wesentlichen Teilen im Korruptionssumpf und im Klientelwesen der russischen Führungsschichten versickert sind.
Vizeminister beim Abkassieren in flagranti ertappt
Nun hat die für Aussenstehende unerwartete Welle von Entlassungen und Rücktritten hoher Funktionäre in der Ukraine der Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen, dass auch in diesem vom russischen Aggressor schwer gebeutelten und geschändeten Land das Korruptionsvirus kaum weniger virulent und verbreitet ist als in Putins Herrschaftssystem. Das war zwar für viele Beobachter kein Geheimnis. Im Rating der Organisation Transparancy International, dessen letzte Rangliste die Einschätzungen des Jahres 2021 wiedergibt (also die Verhältnisse vor der russischen Invasion), kommt die Ukraine auf den 122. von 180 Länderplätzen. Das ist ein nur leicht besserer Rang als Russland, das auf Platz 136 landet. Auf Rang 1 stehen Dänemark und nachfolgend andere skandinavische Staaten. Die Schweiz findet man auf Platz 6.
Unter den dieser Tage entlassenen oder zurückgetretenen ukrainischen Amtsträgern findet man sechs Vizeminister und fünf Gouverneure. Die von den Medien verbreitete Liste geschasster Funktionäre ist wohl nicht vollständig und die Entlassungswelle in zentralen und regionalen Hierarchien scheint sich fortzusetzen. Vier unfreiwillige Machtablösungen haben besonderes Aufsehen erregt.
Erstens die Verhaftung des stellvertretenden Infrastrukturministers Wasil Losinski am vergangenen Wochenende. Er wurde offenbar in flagranti dabei ertappt, wie er Bestechungsgelder von 400’000 Dollar abkassierte. Diese Gelder soll er im Zusammenhang mit dem Ankauf der Regierung von Notstromgeneratoren bekommen haben. Zweiter Fall: der Rücktritt von Vizeverteidigungsminister Wyacheslaw Shapowalow. Ihm wird vorgeworfen, zusammen mit andern Komplizen den Einkauf von Lebensmitteln für die ukrainische Armee zu völlig überteuerten Preisen organisiert und dabei auch die eigenen Taschen gefüllt zu haben.
Dritter Fall: der Rücktritt des Vizechefs von Selenskyjs Präsidialbüro, Kirilo Timoschenko. Ihm wird vorgeworfen, zeitweise einen für Evakuierungen von General Motors zur Verfügung gestellte Chevrolet für private Fahrten benützt zu haben. Vierter Fall: Rücktritt des stellvertretenden Generalstaatsanwalts Oleksij Symonenko. Ihm wird vorgeworfen, mit seiner Familie über die Weihnachtszeit für zehn Tage ferienhalber nach Spanien gereist zu sein, und zwar in einem Mercedes, den ihm ein Geschäftsmann in Lwiw zur Verfügung gestellt haben soll. Dies alles während im Lande gegen die russischen Invasoren gekämpft und gelitten wird und gewöhnlichen Familienvätern aus diesem Grund nicht erlaubt ist, ins Ausland zu reisen.
Gift für die Beziehungen zum Westen
Meldungen über solche Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption waren schon zuvor in einzelnen ukrainischen Medien verbreitet worden. Diese geniessen trotz der seit elf Monaten andauernden Kriegssituation ungleich mehr Spielraum für eine kritische Berichterstattung als in Russland. Untersucht und aufgedeckt werden solche illegalen Praktiken auch vom Unabhängigen Antikorruptionsbüro NABU, das grössere Überwachungsoperationen durchführt und vor allem auf Druck ausländischer Geldgeber wie der EU installiert wurde.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat am Montag bei einem Fernsehauftritt persönlich über die Verhaftung von Vizeinfrastrukturminister Losinski informiert und auf andere laufende Korruptionsfälle hingewiesen. Dezidiert erklärte er, es werde «keinerlei Rückkehr zu dem geben, was in der Vergangenheit üblich war».
Offenkundig ist er sich darüber im Klaren, dass der Kampf zur Verhinderung und zur Aufdeckung von Korruption und Verschwendung für ihn und seine Regierung so etwas wie eine zweite Front darstellt im aktuellen Ringen um das Überleben der Ukraine. Denn es liegt auf der Hand, dass im Westen die ohnehin nicht unbestrittene Bereitschaft zur grosszügigen finanziellen und waffenmässigen Unterstützung gefährlich geschwächt oder überhaupt in Frage gestellt würde, wenn sich allgemein der Eindruck festsetzen sollte, dass ein bedeutender Teil dieser Hilfsleistungen durch korrupte Kreise abgezockt und in dunkle Kanäle umgeleitet würden. Es wäre Gift für die Beziehungen zu westlichen Partnerländern.
Die Gefahr einer derartigen Unterminierung der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen und Diskreditierung westlicher Solidaritätsleistungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Selenskyj tut gut daran, diese Gefahr nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die Putin-Verharmloser und Selenskyj-Anschwärzer à la Köppel (er bezeichnet Selenskyj als «Kriegstreiber») und Co. werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit dem Korruptionsthema zusätzliches Misstrauen gegen die westliche Ukraine-Hilfe und deren Berechtigung zu schüren.
Entzug der Staatsbürgerschaft für früheren Mentor Selenskyjs
Selenskyjs Ausgangslage im Kampf an dieser «zweiten Front» im Ringen um die Existenz der Ukraine ist trotz seiner bewundernswerten Führungsleistung seit dem russischen Überfall und seiner entsprechend hochfliegenden Popularität weit über die Ukraine hinaus keineswegs unverwundbar. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit konnte er nur sehr begrenzte Erfolge bei der Auseinandersetzung mit dem eingefleischten Grundübel korrupter Geschäftemacher und bestechlicher Staatsdiener vorweisen. Bei der Affäre um den Versuch des damaligen Präsidenten Trump, ihn zur Anschwärzung des Präsidentschaftskandidaten Biden zu instrumentalisieren, machte er keine besonders überzeugende Figur. Und lange schien es, dass er sich scheute, sich von seinem dubiosen früheren Mentor, dem Oligarchen Ihor Kolomoiski, klar abzugrenzen.
Inzwischen allerdings sind solche Zweifel an Selenkyjs Durchsetzungskraft und Durchsetzungswillen bei der Korruptionsbekämpfung wesentlich geringer geworden. Im Juli dieses Jahres, fünf Monate nach der russischen Invasion in die Ukraine, ist ein präsidiales Dekret Selenskyjs publiziert worden, das dem Oligarchen Kolomoiski und neun andern Personen aus dessen Umfeld die ukrainische Staatsbürgerschaft entzog. Wo sich dieser frühere Geschäftspartner Selenkyjs aus der Zeit seiner Komödianten-Karriere aufhält, ist nicht bekannt. Kolomoiski, gegen den auch im Ausland juristische Verfahren laufen, besitzt weitere Staatsbürgerschaften in Israel und Zypern.
Sicher ist dagegen, dass der ukrainische Präsident auch bei der Bekämpfung der endemischen Korruption in seinem Land inzwischen an Statur gewonnen hat – auch wenn dieses Krebsübel noch kaum auf ein erträgliches Mass zurückgestutzt worden ist.