Es wird wahrscheinlich wenige Menschen geben, bei deren Ableben die Würdigungen aus Politik, kirchlichen Kreisen, aus anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, aber auch aus weiten Teilen der Bürgerschaft so ehrlich gemeint sind, wie bei Helmut Schmidt. Obwohl (oder war es vielleicht sogar weil?) er bereits vor 32 Jahren aus der aktiven Politik ausstieg, wurde er in den Augen der Deutschen mit zunehmendem Alter immer mehr zu einer unumstrittenen, ja unangreifbaren Ikone – zu einem lebenden Denkmal fast, geradezu entrückt zum Inbegriff staatsmännischer Tugendhaftigkeit.
Egal, was er an Expertisen zum Zustand der Welt, zu wirklichen oder vermeintlichen Fehlleistungen von Politik und Wirtschaft von sich gab – der „Weise von der Elbe“ hatte gesprochen, das Volk hörte atemlos zu. Seine Bücher waren stets Kassenschlager. Ja, dieselben Leute, die im „normalen“ Leben gnadenlos jeden Raucher mit Verachtung strafen, lächelten zumeist verständnisvoll über die Marotte des Alten, wenn dieser wieder einmal in einer Talkshow mit seinen Menthol-Zigaretten das Studio vollqualmte.
Die Flutkatastrophe 1962
Helmut Schmidt war das, was man ohne jede Einschränkung als „Vollblutpolitiker“ bezeichnen kann. Das war dem am 23. Dezember 1918 in Hamburg Geborenen freilich nicht in die Wiege gelegt, obwohl die Tatsache, einen „halbjüdischen“ Vater zu haben (was dem Sohn lange verschwiegen worden war), zumindest theoretisch eine Gefährdung in sein Leben brachte.
Es war, wie er später immer wieder zu sagen pflegte, „die Scheisse des Krieges“, die den bei Ausbruch desselben Zwanzigjährigen prägte. 1944 war er sogar einmal als Zuhörer in den Prozess-Saal des „Volksgerichtshofs“ gegen die Attentäter des 20. Juli kommandiert worden. Gegen Ende des Krieges geriet er in britische Kriegsgefangenschaft, wo ihm – nach seinen eigenen Worten – ein Vortrag des hoch dekorierten Hochschullehrers Hans Bohnekamp die letzten Illusionen über die Nationalsozialisten nahm.
Sehr frühzeitig, nämlich bereits 1946, trat Schmidt der sozialdemokratischen Partei bei und blieb ihr bis zu seinem Tode treu. In der SPD machte er freilich auch eine Art Blitzkarriere. 42 Jahre alt war Helmut Schmidt, als er sich erstmals den Ruf eines „Machers“ erwarb. Das war 1962. Schmidt war gerade ein Jahr als Innensenator im Amt, als Hamburg von einer gewaltigen Flutwelle getroffen wurde. Und während Politiker und Juristen im Land sich noch über Befugnisse zerstritten, unterstellte sich der junge Senator kurzerhand das „wie ein Hühnerhaufen agierende“ (Schmidt) Lagezentrum der Hansestadt, koordinierte die zivilen Rettungskräfte, griff auf Gerätschaften der Bundeswehr zu und forderte Hubschrauber der NATO an. Von da an haftete ihm der „Macher“ an. Was ihm freilich – ungeachtet mannigfacher gegenteiliger Beteuerungen – auch nicht unlieb war.
Das Triumvirat der Genossen
Die wirkliche Spielwiese Helmut Schmidts, indessen, war die grosse Politik, war das Geschehen auf Bundes-, noch lieber allerdings auf der Europa- und der Weltbühne. Zusammen mit Parteifreunden wie dem legendären Aussenpolitiker Fritz Erler und dem Gewerkschaftsmann Georg Leber arbeitete er hartnäckig daran, die SPD ideologisch zu entkrampfen und auch für bürgerliche Schichten wählbar zu machen.
Auf diesem Weg scheute er auch parteiinterne Konflikte nicht. Etwa als er – die Sozialdemokratie war vehement gegen die Wiederbewaffnung – bereits 1958 als Reserveoffizier eine Wehrübung absolvierte, wofür er mit dem Rauswurf aus der Führung der SPD-Bundestagsfraktion bestraft wurde. Schmidt war – diesmal Seite an Seite u. a. mit Herbert Wehner – Vorkämpfer auf dem Weg der SPD über die Grosse Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger (1967-69) an die Regierungsmacht mit Hilfe der Freien Demokraten.
Das war ohne Zweifel eine der spannendsten Epochen in der (west)deutschen Nachkriegs-, auf jeden Fall der SPD-Geschichte. Denn hier bildete sich an der Parteispitze eine einmalige Gruppierung – das Triumvirat Willy Brandt, Helmut Schmidt und der verbissene, häufig genug gnadenlose Partei- und Fraktions-Zuchtmeister Herbert Wehner. Und dieses Gespann hielt – immer mit Blick auf das Parteiwohl – über viele Jahre zusammen, obwohl untereinander unglaubliche menschliche, nicht selten auch sachliche Zerwürfnisse herrschten. Dies in erster Linie zwischen Brandt und Wehner, aber zeitweise auch zwischen Brandt und Schmidt.
Der eine geachtet, der andere geliebt
Nicht zuletzt das zweite Gespann bot den politischen Beobachtern in Bonn über lange Zeit Stoff und Szene einer schwierigen Freundschaft. Vor wenigen Wochen erschien ein Buch mit dem Briefwechsel zwischen Brandt und Schmidt seit 1958 – 1100 Seiten, 737 Briefe. In ihnen werden die Konflikte, Kompromisse, aber auch Übereinstimmungen zwischen zwei politischen Ausnahmefiguren deutlich, die häufig nur in einem einig waren: dass sie nämlich Sozialdemokraten waren.
Der 1913 in Lübeck geborene Brandt und der fünf Jahre jüngere Schmidt hatten sowohl vom Wesen als auch von der Herkunft her so gut wie nichts gemeinsam. Hier der nicht ehelich als Herbert Frahm zur Welt gekommene Lübecker, dort der dem Hamburger Bildungsbürgertum entstammende Schmidt. Hier der frühzeitig mit der politischen Linken in Kontakt gekommene und nach Norwegen emigrierte Frahm/Brandt, dort der Kriegsteilnehmer auf deutscher Seite namens Helmut Schmidt. Hier der Lübecker, der von seiner Partei und fast allen deutschen Intellektuellen geliebt wurde, dort der arrogant und immer besserwisserisch, oft genug auch kalt und barsch auftretende Hamburger, den man achtete, respektierte, allenfalls ob seiner Durchsetzungsfähigkeit bewunderte – aber niemals liebte.
Auf der Suche nach Freundschaft
Vor allem aus der Frühzeit ihrer Kontakte gibt es – unter anderem brieflich dokumentiert – eine Menge Hinweise darauf, wie sehr der junge Hamburger den Älteren bewunderte, ja dessen Freundschaft suchte. Brandt war damals Regierender Bürgermeister in Berlin und steuerte die Frontstadt ebenso mutig wie gekonnt durch die zahlreichen politischen Fährnisse. Auch später, als Mitglied im sozialliberalen Kabinett Brandt/Scheel (zunächst als Verteidigungs-, dann kurzfristig als Finanz- und Wirtschaftsminister und schliesslich als Chef im Finanzressort) stützte Schmidt den für seinen Geschmack allzu häufig zaudernden Brandt.
Das galt vor allem für den Bereich der Ostpolitik. Als Brandt sich jedoch zunehmend reserviert zeigte gegenüber der Sicherheitspolitik (Raketen-Doppelbeschluss) seines Genossen, wuchsen die Spannungen. Und zwar bis hin zum offenen Bruch, als der mittlerweile (1974) als Bundeskanzler zurückgetretene Willy Brandt die Forderung seines Nachfolgers Helmut Schmidt ablehnte, die SPD-Mitglieder zur Nichtteilnahme an der grossen Antiraketen-Demonstration im Bonner Hofgarten aufzufordern.
Brandt war 1974, nach zwei Jahre zuvor grandios gewonnener Bundestagswahl, wegen der Affäre Guillaume zurückgetreten, wegen des DDR-Spions also, der von der Stasi neben ihm platziert worden war. Schmidt war seinerzeit vehement gegen diese Demission. Wegen so etwas, erklärte er, trete ein Kanzler nicht zurück. Immerhin blieb Brandt SPD-Vorsitzender. Was Schmidt zunächst geradezu überschwänglich begrüsste, später allerdings zutiefst bedauerte, als man sich politisch entzweite.
Mogadischu und der „deutsche Herbst“
Wenn in späteren Jahren die Rede auf Helmut Schmidt kam, dann blieben Stichworte wie „Mogadischu“ oder „der deutsche Herbst“ nie aus. Und sie zementierten den Ruf des Hamburgers als entschlossener „Macher“. Das ist einerseits richtig, lässt aber häufig ausser Acht, erstens dass und zweitens wie er unter der Last dieser Verantwortung gelitten hatte. Denn natürlich war ihm klar, dass (es kam ja auch so) selbst bei einer geglückten Befreiung der Geiseln in der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu aus terroristischer Hand der von der RAF gekidnappte Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer ermordet würde. Diese moralische Last war der hohe Preis dafür, dass sich der Staat nicht als erpressbar erwies. Schmidt zitierte in diesem Zusammenhang einmal den „Schmied“ des Wilhelminischen Reichs, Otto von Bismarck: „Wer seine Pflicht tut, ist ein getreuer Knecht, hat aber keinen Anspruch auf Dank“.
Auch Friedrich der Grosse war für den Hamburger ein oft und gern herangezogener Zeuge, um eine eigene politische Entscheidungen zu untermauern: „Seine Pflicht erkennen und tun, das ist die Hauptsache“.
Lafontaine und die Sekundärtugenden
Je mehr Jahre ins Land gingen und je älter sie wurden, desto mehr suchten die Entzweiten – Brandt und Schmidt – wieder Nähe zueinander. Auch das lässt sich in den Briefwechseln sehr schön finden. Beispielsweise Schmidt an Brandt: „Ich möchte im Frieden mit Dir leben – für eine über diesen Brief hinausgehende Streitigkeit bin ich nicht gestimmt. Dafür ist mir Deine Lebensleistung zu wichtig“. Brandt an Schmidt: „Insofern bleibt uns… kaum etwas anderes übrig, als uns auf das angelsächsische „agree to disagree“ (einig darin, uneinig zu sein) zu verständigen. Das berührt in keiner Weise meine Hochachtung vor Deiner politischen Leistung“.
Dafür hat Helmut Schmidt, gerade vor dem Hintergrund seiner Einstellung zur Pflichterfüllung, einem anderen (ehemaligen) Sozialdemokraten eine Einstellung nie verziehen. Es war Oskar Lafontaine (immerhin einmal SPD-Vorsitzender und heute Mitglied der einstigen SED und heutigen Linken), der im Juli 1982 einmal sagte: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit. Standhaftigkeit… Das sind Sekundärtugenden. Damit kann man auch ein KZ betreiben.“
Die Betroffenheit über diese Art von „Unanständigkeit“ (Schmidt) hat der einstige Bundeskanzler wahrscheinlich mit in den Tod genommen.