Zu den zahlreichen bilateralen Treffen im Rahmen des G-20-Gipfels kam es auch zu einer Unterredung zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Narendra Modi, dem Premierminister Indiens. War es mehr als eine Routine-Begegnung? Die Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt – einem Drittel der Menschheit – haben sich in den letzten Monaten mit immer häufigeren gegenseitigen Nadelstichen merklich erhitzt, und in Indien war man gespannt, ob es zu einer Annäherung kommen würde.
Vor drei Wochen erreichten die Spannungen einen Brennpunkt. Am 16.Juni wurde bekannt, dass Einheiten der Volksarmee im Gebiet des Doklam-Tals, südöstlich des Dreiländerecks zwischen China, Indien und Bhutan (es heisst sinnigerweise Turning Point), eine Strasse bauten. Das Tal wird sowohl von Bhutan wie von China beansprucht, doch beide Länder haben sich 1998 darauf geeinigt, den Status quo zu erhalten. Und dieser lautet, dass das Tal unter bhutanischer Kontrolle steht.
„Unfreundlicher Akt“
Wie bei Indien und China streiten sich auch China und Bhutan über (oft winzige) Geländestücke in der Himalayaregion. In beiden spielt meist Beijing die Rolle eines Geschädigten. Es besteht auf der Rückerstattung von Landstrichen, die angeblich einmal Tibet angehörten und nun rechtmässiger Besitz Chinas sind. (Nur an Indiens Nordwestgrenze tritt dieses mit Landforderungen auf.) Allerdings haben sich alle drei Parteien bisher für eine diplomatische Lösung eingesetzt. Sie haben dafür Schlichtungskommissionen eingerichtet, die sich regelmässig treffen. Zwischen Bhutan und China gab es bis heute 24 solcher Treffen, bei Indien/China sind es 23.
Nach Bekanntwerden des „unfreundlichen Akts“ war das bhutanische Aussenministerium sofort in Beijing vorstellig geworden. Doch die Arbeiterkolonnen im Hochtal wurden nicht abgezogen. Bhutan alarmierte Indien, mit dem es durch einen Freundschaftsvertrag eng verbunden ist; laut diesem unterstützt Indien seinen Verbündeten im Fall der Gefährdung von dessen nationaler Sicherheit.
„Religiöser Besuch“
Delhi intervenierte diplomatisch, begann aber auch, sein militärisches Sicherheitsdispositiv in diesem Sektor zu verstärken. In Wahrheit hatte dieser Prozess schon Wochen zuvor begonnen, als China in unmittelbarer Nähe zu Doklam im Norden von Sikkim die Grenze für den Pilgerverkehr zum Mount Kailash schloss. Der Anlass war das nicht vorgängig bewilligte Überschreiten der Grenze durch indische Offiziere gewesen. Doch die harsche Reaktion Beijings lässt vermuten, dass andere Gründe dahinter standen.
Da war zum Beispiel der „religiöse“ Besuch des Dalai Lama im Kloster von Tawang in Arunachal Pradesh vor einigen Monaten. Das Territorium dieses Gliedstaats im äussersten Nordosten Indiens wird von China beansprucht; es habe früher buddhistischen Klöstern gehört, die Tributzahlungen nach Lhasa leisteten – ergo gehöre es zu Tibet. Was die Chinesen besonders erzürnte, war Delhis Nadelstich, dem tibetischen Exil-Oberhaupt einen Minister des Zentralkabinetts als Begleitung mitzugeben.
Indien steht abseits
Für Delhi war es die Retourkutsche für die parteiische Haltung Beijings zugunsten Pakistans. Es hatte in der Uno sein Veto eingelegt, als Masood Azhar, der Kopf der aus Pakistan agierenden Jaish-e-Mohammed-Organisation, international als Terrorist geächtet werden sollte. Und es verwehrt Delhi den Beitritt zur Nuclear Suppliers Group – und damit die Anerkennung als Atomwaffenstaat – solange Islamabad nicht auch zugelassen wird.
Den jüngsten Affront erkannte die eigentümlich reizbare Supermacht, als Indien dem gross angelegten Start des Seidenstrasse-Projekts OBOR in Beijing fernblieb. Indien ist zwar weder über den Seeweg noch die Landroute Teil des gigantischen Unternehmens. Aber der formelle Einbezug Delhi wäre eine wichtige Sicherheitsgarantie für dessen pakistanischen Abzweiger, den China-Pakistan Economic Corridor. Dieser läuft durch das hochgradig gefährdete Industal und das volatile Balutschistan zwischen Indien und Afghanistan. Es dürfte für Delhis Dunkelmänner ein Leichtes sein, mit Sabotageakten diese Infrastruktur von Pipelines, Strassen, Schienen, und Stromleitungen folgenschwer zu stören.
Sonderbehandlung für Buthan
Nicht nur Delhi war den OBOR-Festivitäten ferngeblieben, auch Bhutan hatte sich in Absprache mit Delhi abseits gehalten – der einzige südasiatische Staat neben Indien. Sind die Strassenbau-Kolonnen im Doklam-Tal nun Beijings Rute für den störrischen Zwerg zu seinen Füssen? In den indischen Medien verwerfen China-Experten mehrheitlich diese Erklärung, auch wenn man weiss, dass Beijing aus jedem Flecken Erde – und Meer – eine Staatsaffäre machen kann.
Andere Kommentare meinen, Beijing könnte mit der Provokation versuchen, einen Keil in das denkbar enge Verhältnis zwischen Thimphu und Delhi zu treiben. Es könnte die Beilegung des Konflikts zum Anlass nehmen, Bhutan mit einer Sonderbehandlung allmählich aus seinem Vasallenstatus mit Indien herauszulösen, genauso wie es Beijing mit den anderen kleinen Staaten im Einflussbereich Delhis tut – mit Sri Lanka, Bangladesch, Nepal und den Malediven.
Lektion von 1962
Falls dies das heimliche Ziel des chinesischen Aussenministeriums ist, hat es – zumindest vorläufig – das Gegenteil bewirkt. Indien und Bhutan haben sofort einen Rückenschluss vollzogen und koordinieren ihre Reaktionen aufs Engste, wobei Delhi sehr darauf bedacht ist, Bhutans Sensibilitäten als Kleinstaat zu respektieren. Dies hat auch damit zu tun, dass Doklam von strategischer Bedeutung ist. Das Tal schliesst im Süden an das chinesische Chumbi Valley an, das (an Sikkim vorbei) bis nahe an den Chicken Neck heranreicht. Indien bezeichnet damit den schmalen Landkorridor zwischen China und Bangladesch, mit dem Assam und der übrige Nordosten mit dem Rest Indiens verbunden sind.
Diese fragile Geographie wird zudem von historischen Erinnerungen überlagert. Im Jahr 1962 hatte Indien in einem kurzen Krieg mit China in dieser Region eine schmähliche militärische Niederlage erlitten. Aus einem Untersuchungsbericht über deren Ursachen geht hervor, wie schlecht Indien für einen Konflikt gewappnet gewesen war. Diese Lektion will das Land nicht vergessen.
Empfindliches China
Der Bericht verweist allerdings auch auf die Unfähigkeit der indischen Regierung unter Jawaharlal Nehru, innenpolitische Faktoren im Verhalten der chinesischen Führung einzubeziehen. Die katastrophalen Folgen von Maos „Sprung nach vorn“ mit seinen Millionen von Hungertoten sei ein möglicher Beweggrund gewesen, mit einem „Volkskrieg“ davon abzulenken und den Rückhalt für das Regime zu stärken. Nehru habe bis zuletzt geglaubt, China würde nie die Waffen gegen einen Blockfreien-Verbündeten erheben.
Gibt es Gründe zur Annahme, dass China auch heute versucht sein könnte, mit nationalistischen Gebärden die innenpolitische Front zu stärken? Auch wenn das China von heute kaum mit jenem von 1959 zu vergleichen ist, erstaunt es doch, mit welcher Empfindlichkeit die aufstrebende Weltmacht jeweils auf Nadelstiche von Gegnern reagiert, die keine ernsthafte nationale Gefährdung darstellen. Es ist eines der vielen Rätsel, die das heutige China weiterhin charakterisieren, obwohl es seinen Bambusvorhang längst hochgezogen hat.
PS: Das Gespräch zwischen den beiden G-20-Teilnehmern aus Beijing und Delhi dauerte, so berichten indische Medien, lediglich fünf Minuten. Gleichentags hisste am Pang Gong-See in Ladakh der „Premierminister“ der tibetischen „Exil-Regierung“, Lobsang Sangay, eine Tibetflagge – das erste Mal, dass Indien dies auf seinem Territorium zuliess. Dann streute er Getreidekörner ins Wasser des Sees, dessen östliche Hälfte von China kontrolliert wird.