Praktisch auf jeder Seite hatte jemand einen Stempel hineingeklopft: "The External Boundaries of India as depicted on the map are neither correct nor authentic."
Und sobald die Karten das 20. Jahrhundert erreichten, hatte der Zensor mit einem schwarzen Filzstift nachgeholfen und bei jedem Kartenblatt den "richtigen" Grenzverlauf hineingschludert.
Es ging um die Nordwestecke des Subkontinents, dort, wo China, Indien und Pakistan aufeinandertreffen. Es war das Königreich von Kaschmir gewesen, dessen Grenzen nie verbindlich kartografiert worden waren. 1947, bei der Trennung von Indien und Pakistan, hatte die Radcliffe-Kommission dies nachgeholt, doch bereits der erste Kaschmirkrieg führte 1948 zur Aufteilung der vielbegehrten "Schweiz Asiens". Im indisch-chinesischen Krieg von 1962 besetzten die Chinesen Teile von "Klein-Tibet", einem ehemaligen Untertanengebiet des Maharadschas. Um den Wirrwarr von Grenzlinien vollzumachen, trat Pakistan China 1963 ein Tal ab, das Indien weiterhin als Teil Kaschmirs und damit Indiens beansprucht.
Gebirgsjäger am Fusse der Achttausender
Bei der Festlegung des Grenzverlaufs hatte Radcliffe neben den Karten-Koordinaten geografische Markierungen gesetzt – aber nur bis zu einem Punkt in Nord-Kaschmir, NJ9842. Dann beginnt eine unwirtliche Schneewüste, die 200 Kilometer weit bis zur Südflanke der Karakorum-Kette geht, mit dem K2 als zweithöchstem Berg der Welt, und dem Siachen als zweitlängstem Gletscher (ausserhalb der Polarregionen). Von NJ9842 an läuft die Grenze laut Radcliffe „North to the Karakorum Pass“. Niemand dachte damals daran, dass in diesen Höhen zwischen 5000 und 7000 M.ü.M. Menschen leben konnten, vergiss gegeneinander Krieg führen würden.
In den Siebzigerjahren begann Pakistan die Region als alpinistisches Aufmarschgebiet für die Achttausender des Karakorum zu nutzen. Es lag auf der pakistanischen Seite des imaginären Grenzstrichs, doch Indien sah es als Gefährdung seines Einzugsgebiets an. Es besetzte 1984 den Bergrücken der "Saltoro Ridge" westlich der Grenzlinie. Damit hatte es freie Sicht auf Pakistan – und "frei Schuss". Für Islamabad war es ein "Casus Belli". Es warf ebenfalls mehrere Bataillone Gebirgsjäger in die Region, und seitdem führen die beiden Länder dort einen Kleinkrieg.
Die teuerste und dümmste Kriegsfront
Es ist die höchstgelegene Kriegsfront der Welt. Es ist zudem die teuerste (2 Mio.$, jeden Tag) – und auch die dümmste. Denn von den Opfern (Schätzungen sprechen von über 8000) wurden 90 Prozent nicht durch Kriegshandlungen hingerafft, sondern von Lungen- und Gehirnblutung, Erfrierung und Absturz in Gletscherspalten. In beiden Ländern leben zudem Hunderte Veteranen, die weiterhin mit Schneeblindheit, psychischen Spätfolgen oder erfrorenen Gliedmassen leben. Am 7. April wurde die Opfer-Statistik zusätzlich angereichert, als eine Lawine über den pakistanischen "Gyari Outpost" des "6th Northern Light Infantry Batallion" niederging und 138 Mann unter sich begrub. Zwei Wochen verzweifeltes Suchen, u.a. mit Schweizer Lawinen-Experten, brachten noch keine einzige Leiche an den Tag, vergiss einen Überlebenden.
"Damn You, Siachen!" lautete die Schlagzeile einer Kolumne, die kurz darauf in der "Express Tribune" in Lahore erschien. Der Autor Kamran Shafi ist ein ehemaliger Major der pakistanischen Armee. Er verflucht den Gletscher, aber vor allem schleudert er den Militärs und Politikern, die Tausende junger Männer in diese Todeszone schicken, ein "Schämt Euch, Alle zusammen!" ins Gesicht. Er anerkennt, dass beide Länder wiederholt versucht haben, eine Einigung zu finden. Er erwähnt das Treffen von Rajiv Gandhi und Benazir Bhutto von 1989. Beim Abschied habe Bhutto ihrem Besucher eine Karikatur überreicht. Sie zeigte einen Mullah und einen Hindu-Priester, die sich auf beiden Seiten eines Gebirgszugs belauern. Davor stehen Bhutto und Gandhi, die beide sagen: "Lassen wir sie hinter uns, und besteigen wir gemeinsam den Berg!"
Indisches Misstrauen
Bisher war der Berg des Misstrauens für einen Handschlag auf dem Gipfel zu steil. Nun unternehmen beide Seiten wieder einen Anlauf. Und da Pakistan zum ersten Mal nicht jede Annäherung von der Lösung des Kaschmirkonflikts abhängig macht, sind erste Erfolge zu verzeichnen. Islamabad hat Delhi "Gleichbehandlung" beim bilateralen Handel eingeräumt, was den Handelsverkehr in Kürze auf 25 Mia. $ verzehnfachen könnte. Indien, das Pakistan den "MFN-Status" bereits gewährt hat, will dem Nachbarn diesen Status nun auch bei Investitionen anbieten. Die strengen Visabestimmungen sollen gelockert werden, um "people-to-people"-Kontakte zu erleichtern. Wird damit auch auf 7000 Metern Höhe Tauwetter einziehen? Es ist Indien, das sich bisher einer Lösung entzogen hat. Es will seine vorteilhaften Stellungen auf dem Bergkamm über dem Siachen nicht einfach aufgeben. Das Misstrauen hat seine Gründe. Vor dreizehn Jahren, nur Monate nach dem historischen Besuch von Premierminister Vajpayee in Lahore, kam es zum Kargil-Krieg.
Pakistanische Kleintrupps überschritten auf einer Breite von hundert Kilometern die Waffenstillstandslinie entlang der Krete über dem Indus-Tal. Sie beschossen von dort die Strasse Srinagar-Leh – die wichtige Versorgungslinie für Siachen. Es bedurfte massiven internationalen Drucks, um General Musharraf zum Rückzug zu zwingen. Für Indien war es, so kurz nach dem Lahore-Besuch, ein Beweis, dass dem Nachbarn nicht zu trauen ist.
Der am schnellsten schrumpfende Gletscher
Vielleicht vermag das Zusammentreffen wirtschaftlicher Annäherung und der Lawinenkatastrophe den Siachen-Verhandlungen den Schub zu geben, dass sie diesmal die Höhe schaffen. Am 18. April besuchte General Ashfaq Kayani, Pakistans Oberbefehlshaber, den Unglücksort im Siachen-Gebiet. Es waren neue Töne, die man dort von ihm hörte: "Beide Länder geben so viel für ihre Verteidigung aus, und vergessen die wirtschaftliche Entwicklung." Dies sei falsch, denn die Sicherheit eines Landes hänge "nicht nur von der Sicherung der Grenzen ab, sondern der Sicherung der Wohlfahrt der Bürger". Und dann: "Wir wollen das (Siachen-)Problem lösen. Für beide Seiten ist es nicht leicht. Aber die Kosten sind hoch."
Diese Kosten beträfen auch, fuhr der General zum Erstaunen seiner Zuhörer fort, die Umwelt. Er spielte auf die Praxis beider Armeen an, über grossen Flächen des Gletscherstroms aus taktischen Rücksichten dem Schmelzprozess mit Chemikalien nachzuhelfen. Dies bedeutet, dass der Siachen noch schneller schmilzt als die anderen Himalaya-Gletscher; er ist mit 130 Metern pro Jahr der weltweit am raschesten schrumpfende Gletscher. Der Siachen entwässert in den Indus, sagte Kayani, "und deshalb wird der Einsatz von Truppen im Gletschergebiet auch den Indus-Strom beeinflussen".
Der Indus ist einer jener Flüsse, die aus dem indischen Himalayas nach Pakistan abfliessen. Die einvernehmliche Gewässer-Regelung war bisher einer der wenigen Bereiche, die beide Länder durch alle Kriege hindurch aufrechterhielten. Es wäre zu schön, wenn ein umweltpolitisches Argument ihnen nun helfen würde, den Fluch über dem Siachen zu entkräften.