Eine Frau sitzt auf ihrem Bett, eingewickelt in eine grellfarbige chinesische Decke, mager, ungekämmt. Sie starrt mich angstvoll an aus einem Gesicht, das eingefallen ist und in das ein Nasenschlauch eindringt. Ein paar Schritte daneben stehen zwei junge Frauen in Polizeiuniform vor einem vergitterten Fenster, schwatzen, schminken und kämmen sich.
Es war an Weihnachten 2006 gewesen, als es mir trotz Polizeiverbot gelang, bis ins Zimmer von Irom Sharmila im Gefängnistrakt des Nehru-Spitals in Imphal vorzudringen. Es wurde ein kurzer Besuch, denn kaum hatten mich die beiden Bewacherinnen erblickt, liessen sie Spiegel und Schminkstift liegen, ergriffen ihre Waffen und drängten mich aus dem Raum. (Ich schrieb darüber im Buch „Abschied von Gandhi?“).
Über dieses Bild legt sich nun eines vom 9. August dieses Jahres, ebenso verstörend in der scheinbaren Alltäglichkeit seiner Geste. Umdrängt von Presseleuten und Polizeibeamten, taucht Sharmila ihren Finger in ein Honigglas, und schleckt ihn ab. Es ist das erste Mal nach beinahe sechzehn Jahren, dass ihre Zunge Essen kostet.
Protest gegen Unterdrückung in Manipur
Seit dem 4. November 2000, als die damals 28-Jährige ihren Hungerstreik begann, war sie durch die Einführung eines Schlauchs in ihre Nase zwangsernährt worden. Tage zuvor waren damals in einem Dorf im Bundesstaat Manipur elf Zivilpersonen von der paramilitärischen Assam Rifles erschossen worden, als sie auf einen Bus warteten.
Es war ein Racheakt auf einen Angriff von Kämpfern einer Rebellengruppe am gleichen Ort. Es kam zu keinen Verhaftungen, denn die Soldaten standen unter dem Schutz des AFSPA – dem Armed Forces Special Powers Act. Als Sharmila vom Massaker hörte, beschloss sie spontan, nichts mehr zu essen, solange der Staat das drakonische Gesetz nicht aufhob.
Sharmila wurde verhaftet, denn auf Selbstmordversuch steht eine einjährige Haftstrafe. Sechzehn Jahre lang wurde sie jeweils im November freigelassen, verbrachte 48 Stunden in einer für sie hergerichteten Bambushütte neben dem Gefängnistrakt des Spitals, wurde darauf dem Richter vorgeführt, verurteilt und wieder abgeführt.
Kampf im Geiste Gandhis
Irom Sharmila wurde zur Ikone des Kampfs gegen die Staatsmacht, die mit Brachialgewalt die zahlreichen Autonomiebewegungen in diesem winzigen Bundesstaat an der Grenze zu Myanmar unterdrückt. Proteste von Frauen haben in Manipur eine lange Geschichte.
Die erste Revolte gegen die britische Kolonialbesetzung im Jahr 1904 hiess Nupi Lan, der „Krieg der Frauen“. Eine Gruppe von Müttern, die Meira Paibis, solidarisierte sich mit Sharmila und führt seit zehn Jahren jeden Tag einen Solidaritätsstreik von Morgen bis Abend durch.
Sharmila berief sich auf Mahatma Gandhi, für den ein Hungerstreik eine moralische Herausforderung sein sollte, die mit Gewaltlosigkeit den „Aggressor“ zu Einsicht und Einlenken bringen würde. Aber es war auch eine politische Strategie. Gandhi stellte sicher, dass Millionen Inder von seinem Fasten hörten. Die Kolonialmacht fürchtete einen Volksaufstand, falls Gandhi sterben sollte – und lenkte meistens ein.
Für Nelson Mandela war Gewaltlosigkeit kein moralisches Prinzip. Es war eine Strategie, die nützlich war, weil sie politischen Druck erzeugte. „There is no moral goodness“, schrieb er in seinen Memoiren, „in using an ineffective weapon“.
Von den Kolonialisten gelernt
Der moderne indische Staat verdankt seine Existenz weitgehend dem Mahatma und seiner Strategie der Gewaltlosigkeit. Aber er wurde ein gelehriger Schüler der Kolonialisten und nicht seines Landesvaters, wenn es darum geht, demokratische Bewegungen gegen staatliche Machtexzesse in Zaum zu halten.
Er war sogar gelehriger als seine Lehrmeister, wie er im Fall von Sharmilas Hungerstreik bewies: Mit Isolationshaft und medialer Abschottung konnte der Staat dafür sorgen, dass die Selbstopferung einer jungen Frau keine politischen Konsequenzen hatte.
Symbolfigur statt Leitfigur
So wurde Irom Sharmila zu einer Märtyrerin statt einer politischen Leitfigur, zu einer blossen Symbolfigur für das Unrecht, das der demokratische Staat dem kleinen Bundesland Manipur seit bald sechzig Jahren mit seinem militärischen Ausnahmezustand antut. Dank Irom Sharmilas Martyrium konnten sich auch die Manipuris zumindest moralisch der „Besatzungsmacht“ überlegen fühlen, der sie im politischen Alltag so hilflos ausgeliefert sind.
In diesem Arrangement, das beiden Seiten gelegen kam, gab es nur ein Opfer: Irom Sharmila. Sie erhielt zwar Solidaritätspost (die Krankenzelle war mit Postkarten tapeziert), doch diese kaschierte nur die extreme soziale Isolation der Einzelhaft – Sixteen Years of Solitude lautete der Titel einer Kolumne des Indian Express.
Auch der physische Blutzoll der künstlichen Ernährung war enorm, mit bleibenden Organstörungen bis zur Unterbrechung des Menstruationszyklus. Es war eine Selbstopferung, die ihren Preis nur wert gewesen wäre, wenn sie politisch wirksam geworden wäre. Doch der AFSPA und mit ihm der Ausnahmezustand blieb bestehen.
Ausbruch aus der Opferrolle
Mit ihrem Entschluss, nach sechzehn Jahren den Hungerstreik aufzugeben, zeigt Sharmila einmal mehr Mut. Sie anerkennt dessen Wirkungslosigkeit, nicht zuletzt weil Indiens mediale Öffentlichkeit wie überall auf der Welt inzwischen nur noch auf gewaltsames Handeln – und nicht auf gewaltloses Nicht-Handeln – reagiert. Sharmila verweigert sich ihrer aufgezwungenen Rolle als wirkungslose Ikone. „Ich will nicht als Göttin verehrt werden“, sagte sie einmal der Menschenrechtsanwältin Nandita Haksar.
Die Reaktion liess nicht auf sich warten. Während die Medien sich plötzlich und kurzzeitig um ihr Bild und ihren O-Ton rauften, zeigten sich die Meira Paibis empört über den Schritt. Sie waren auch entrüstet über ihre Ankündigung, einen Mann zu heiraten, der ihr in zahlreichen Briefen die Ehe angetragen hatte. Und zwei militärische Untergrundgruppen liessen sie ominös wissen, was mit anderen Anführern geschehen sei, die den revolutionären Kampf aufgegeben hätten – sie seien erschossen worden.
Verstörung und lautes Schweigen
Sogar Sharmilas Familienmitglieder zeigten sich verstört über ihren Entscheid, besorgt über ihre Sicherheit, aber wohl auch, weil sie sich mit dem Status einer Märtyrerfamilie recht gut arrangiert hatten. Das Getöse wurde so stark, dass Irom Sharmila vorderhand darauf verzichtete, ihre Gefängniszelle aufzugeben. Dennoch will sie bei ihrem Entschluss bleiben, weiterhin für die Aufhebung der AFSPA zu kämpfen. Bei ihrer Ankündigung des Streik-Endes am 26. Juli sagte sie, sie werde sich nächstes Jahr als Unabhängige zur Wahl ins Provinzparlament stellen.
Derweil geniessen Staat und Indiens Armee mit lautem Stillschweigen ihren Sieg. Es ist bereits der dritte in den letzten fünfzehn Jahren. Bereits zweimal konnten sie Empfehlungen von hochrangigen Kommissionen abschmettern, die für die Aufhebung des AFSPA plädiert hatten.
Menschenrechtsgruppe regt sich
Dennoch war Irom Sharmilas Leidenskampf vielleicht nicht umsonst. Er hatte zur Einsetzung der beiden Kommissionen geführt. Und in Manipur begann eine Menschenrechtsgruppe, systematisch die zahllosen Morde von Todesschwadronen von Polizei und Armee zu dokumentieren. Mit einem Dossier von 1528 solcher Fake Encounters ging sie ans Oberste Gericht; vor einigen Monaten beschloss dieses, auf die Klage einzutreten.
Dass diese Encounters real sind, zeigt das kürzlich im britischen Guardian publizierte Bekenntnis eines Todesschützen der Polizei. Er sagte dem Schriftsteller Raghu Karnad, dass er allein weit über hundert „verdächtige Personen“ erschossen habe. Die letzte „Hinrichtung“ war derart dreist gewesen, dass er von zahlreichen Zeugen identifiziert werden konnte. Seine Auftraggeber liessen ihn fallen. Er wurde unter Anklage gestellt, worauf er sich zu einem öffentlichen Bekenntnis entschloss.