In fast allen wichtigen Meinungsumfragen hat Trump in den letzten zwei Wochen mehr und mehr an Boden verloren – sowohl auf nationaler Ebene als auch in den Battleground States, in denen die Wahlen entschieden werden.
Laut dem Institut „FiveThirtyEight“ des renommierten Demoskopen Nate Silver liegt Trump landesweit um 10,3 Prozent hinter Biden zurück (Stand: Freitag).
Auch „Real Clear Politics“, ein wichtiger Umfrage-Aggregator, sieht Biden landesweit mit 9,2 Prozent in Führung (Stand: Mittwoch).
Doch auch wenn Biden landesweit vorne liegt: Gewonnen hat er damit noch lange nicht. Auch vor vier Jahren erzielte Hillary Clinton klar mehr Stimmen als Trump – und wurde dennoch nicht gewählt. Clinton kam auf 48,0 Prozent der Stimmen, Trump auf 45,9 Prozent.
Um gewählt zu werden, braucht ein Kandidat, eine Kandidatin, mindestens 270 der 538 Elektorenstimmen (Wahlmänner/Wahlfrauen-Stimmen). Trump erhielt 2016 deren 306.
Einzelne Bundesstaaten sind traditionell fest in republikanischer, andere ebenso fest in demokratischer Hand.
Fest (oder eher fest) in republikanischer Hand scheinen 20 der 50 amerikanischen Bundesstaaten, nämlich
Montana (3 Elektoren), Idaho (4 Elektoren), Utah (6 Elektoren), North Dakota (3 Elektoren), South Dakota (3 Elektoren), Wyoming (3 Elektoren), Nebraska (5 Elektoren), Kansas (6 Elektoren), Oklahoma (7 Elektoren), Missouri (10 Elektoren), Arkansas (6 Elektoren), Louisiana (8 Elektoren), Mississippi (6 Elektoren), Alabama (9 Elektoren), Tennessee (11 Elektoren), Kentucky (8 Elektoren), Indiana (11 Elektoren), South Carolina (9 Elektoren), West Virginia (5 Elektoren), Alaska (3 Elektoren)
Es wäre eine grosse Überraschung, wenn einer dieser 20 Staaten ins demokratische Lager kippen würde. Trump kann also vermutlich bereits auf 126 Elektorenstimmen zählen.
Fest (oder eher fest) in demokratischer Hand scheinen 13 Bundesstaaten
Washington (12 Elektoren), Oregon (7 Elektoren), Kalifornien (55 Elektoren), Illinois (20 Elektoren), Maryland (10 Elektoren), Delaware (3 Elektoren), New Jersey (14 Elektoren), New York (29 Elektoren), Connecticut (7 Elektoren), Massachusetts (11 Elektoren), Vermont (3 Elektoren), Hawaii (4 Elektoren), Rhode Island (4 Elektoren)
Es wäre eine grosse Überraschung, wenn einer dieser 13 Staaten ins republikanische Lager kippen würde. Biden scheint also erst einmal über 179 Elektorenstimmen zu verfügen.
Dazwischen gibt es die Battleground States, die Swing States, in denen die Mehrheiten wechseln: hin- und herschwingen. Diese Staaten sind entscheidend für die Wahl. Gemäss Real Clear Politics gibt es 17 Battleground-Staaten.
Texas ist der einzige von ihnen, in dem Trump zurzeit einen Vorsprung hat, und zwar um 4,4 Prozent. Texas verfügt über 38 Elektoren.
In den 16 anderen Battleground States führt Biden teils sehr klar, teils knapp. (In Klammern der prozentuale Vorsprung, den Biden auf Trump hat, Stand Freitag, sowie die Anzahl der Elektoren.)
Florida (+2,7 Prozent, 29 Elektoren)
Wisconsin (6,3 Prozent 10 Elektoren)
Pennsylvania (6,5 Prozent 20 Elektoren)
Michigan (7,2 Prozent, 16 Elektoren)
North Carolina (2,9 Prozent 15 Elektoren)
Minnesota (6,6 Prozent, 10 Elektoren)
Ohio (0,6 Prozent, 18 Elektoren)
Iowa (1,2 Prozent, 6 Elektoren)
Arizona (3,5 Prozent, 11 Elektoren)
Nevada (5,2, Prozent 6 Elektoren)
Virginia (11,4 Prozent, 13 Elektoren)
New Hampshire (11,0 Prozent 4 Elektoren)
Maine (11,0 Prozent, 4 Elektoren)
Georgia (0,4 Prozent, 16 Elektoren)
Colorado 10,0 Prozent, 9 Elektoren)
New Mexico 14,5 Prozent, 5 Elektoren)
Klarer Vorsprung Bidens in drei wichtigen Staaten
Das Interesse konzentriert sich vor allem auf drei Bundesstaaten: Wisconsin, Pennsylvania und Michigan. Hier könnten die Wahlen entschieden werden. Diese drei Staaten hatte Trump 2016 äusserst knapp gewonnen (siehe oben). Jetzt liegt Biden laut Umfragen in all diesen drei Staaten sehr deutlich vorn.
Würde Biden diese drei Bundesstaaten gewinnen, so hätte er mit ziemlicher Sicherheit die Gesamtwahl gewonnen.
Hillary Clinton hatte vor vier Jahren 232 Elektorenstimmen gewonnen. Wenn man davon ausgeht, dass Biden jetzt alle Staaten gewinnt, die vor vier Jahren demokratisch gewählt haben, so fehlen ihm mindestens 38 Elektorenstimmen, um die erforderliche Hürde von 270 Stimmen zu erreichen.
Würde Biden jetzt in Michigan, Wisconsin und Pennsylvania gewinnen, so brächte ihm das 46 zusätzliche Elektorenstimmen ein, acht mehr als zum Gesamtsieg nötig sind.
Doch nicht nur in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin sieht es gut aus für ihn. Selbst in Florida und Iowa liegt er vorn, wenn auch knapp. Auf Messers Schneide liegt die Wahl in Ohio, wo Biden zur Zeit hauchdünn mit +0,6 Prozent führt.
Nicht ausgeschlossen ist auch ein Sieg Bidens in North Carolina, Arizona und sogar in Georgia. Würde Biden in allen Staaten gewinnen, in denen er jetzt in den Meinungsumfragen vorne liegt, würde er einen deutlich klareren Sieg einfahren als Trump vor vier Jahren.
Stimmen die Meinungsumfragen?
Aber: Ist den Meinungsforschungsinstituten diesmal mehr zu trauen als vor vier Jahren, als fast alle einen klaren Sieg von Hillary Clinton prognostizierten?
Führender Demoskop ist nach wie vor Nate (Nathan) Silver mit seinem Institut FiveThirtyEight. Der Name bezieht sich auf die 538 Wahlmänner und Wahlfrauen, die den Präsidenten nach den Wahlen bestimmen werden.
Silver verfügt über ein Team ausgewiesener Demoskopen. Er analysiert, wertet und gewichtet Tausende Umfragen, arbeitet eng mit 21 Meinungsforschern zusammen und analysiert die Umfragen von über 500 Demoskopen. Kein andereres Institut lag mit seinen Prognosen so oft richtig wie FiveThirtyEight.
Nate Silver (Bild: FiveThirtyEight) verteidigt die Voraussagen von 2016. Prognosen der Meinungsforscher hätten immer eine Fehlerquote – je nach Umfrage – von bis zu minus/plus 2 bis 3 Prozent. Trump habe in wenigen Bundesstaaten Hillary Clinton um Haaresbreite geschlagen. In Michigan gewann Trump mit nur 0,3 Prozent Vorsprung, in Pennsylvania und Wisconsin mit je 0,7 Prozent. Diese Ergebnisse seien innerhalb der prognostizierten Bandbreite gelegen, innerhalb des normalen Genauigkeitsbereichs („within the ‘normal’ range of accuracy“). Da diese äusserst knappen Ergebnisse in bevölkerungsreichen Staaten erzielt wurden (Pennsylvania, Michigan, Wisconsin), hätte das kapitale Auswirkungen gehabt. Wenige Prozentpunkte entschieden über Dutzende Elektorenstimmen – und damit über das Endergebnis.
Silver betont, dass 2016 bei den Befragungen der Anteil der wenig gebildeten Bevölkerung (ohne College-Abschluss) unterschätzt worden war. Dies sei jetzt korrigiert worden. Zudem werden Umfragen mit einem grösseren, weitergefächerten Sample durchgeführt.
Silver bewertet auch die verschiedenen Umfrage-Institute. Je bessere Noten er einem Institut gibt, desto mehr Gewicht gibt er ihm in seinen Analysen.
Die Höchstnote A+ erhalten die Umfragen von „ABC/Washington Post“, „Monmouth University“, „Siena College/New York Times“, „Selzer & Co“ sowie „Muhlenberg College“. Fox News erhält ein A- und CNN ein B+.
Sehr schlecht schneiden das in vielen Medien zitierte Trump-freundliche Institut „Rasmussen Reports/Pulse Opinion Research“ (C+) und die „Trafalgar Group“ (C-) ab. Rasmussen hatte 2016 als eines der einzigen Institute einen Sieg Trumps für möglich gehalten. Dies entsprach jedoch mehr einer Wunschvorstellung als seriöser demoskopischer Analyse.
Nichts ist entschieden
Noch sind viele Fragen offen. Wird es wieder wie 2016 in wichtigen Battleground-Staaten zu Zufallsergebnissen kommen? Wie gross ist der Anteil der „hidden Trump voters“, jener, die die Meinungsforscher belügen und sich nicht getrauen, offen zu sagen, dass sie für Trump stimmen – und es dann trotzdem tun? Einige Ergebnisse der Meinungsforscher liegen zudem „within the ‘normal’ range of accuracy“, also innerhalb der Bandbreite von minus/plus 2 bis 3 Prozent. Sie sind also wenig aussagekräftig.
In den letzten zwei Tagen hat Trump da und dort wieder einige Prozentsplitter gewonnen (z. B. in Florida, Pennsylvania und North Carolina). Ist das der Beginn einer Trendwende?
Hassfigur Hillary Clinton
Im Vergleich zu 2016 hat sich einiges geändert. Erstens ist der Abstand zwischen Biden und Trump in vielen Staaten grösser als damals zwischen Hillary Clinton und Trump. Clinton lag laut Real Clear Politics 19 Tage vor der Wahl mit 6,0 Prozent vor Trump. Biden führt jetzt mit 9,2 Prozent.
Meinungsforscher betonen, dass Hillary Clinton in gewissen Bevölkerungskreisen eine eigentliche Hassfigur war. Sie wurde vor allem im gemässigten und linken Lager als Top-Vertreterin einer Washingtoner Elite bezeichnet, die sich kaum um die Bedürfnisse der einfachen Leute kümmert. Biden hingegen, sagen die Forscher, habe ein besseres Image. Dies könnte ihm jene gemässigten und linken demokratischen Stimmen wieder bringen, die vor vier Jahren Hillary Clinton fehlten.
Trump kämpft am Abhang
Trumps totales Versagen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie macht ihm schwer zu schaffen. Zudem haben ihm die Enthüllungen der New York Times über sein Steuergebaren geschadet. Auch sein lümmelhafter Auftritt im TV-Duell mit Biden und das egozentrische, Adonis-hafte Zelebrieren seiner Corona-Infektion haben viele gemässigte Amerikaner verschreckt. Trump hat landesweit allein in den letzten zwei Wochen rund 4 Prozent an Zustimmung verloren. Er steht jetzt am Abhang und kämpft dafür, dass er nicht weiter abrutscht.
Aufgrund der vorliegenden Umfragen gehen die meisten Forscher heute davon aus, dass es Trump schwer haben wird, die Wahl zu gewinnen. Doch noch ist nichts entschieden. Innerhalb von zweieinhalb Wochen kann noch viel geschehen. Und natürlich gilt das Zitat von Mark Twain, das Ignaz Staub in seinem jüngsten Journal21-Kommentar erwähnt: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“