Wie kann die grosse Transformation gelingen, mit der die Klimakrise bewältigt werden soll? Der Soziologe Armin Nassehi legt dazu eine erhellende Studie vor. Seine Lösung erfordert als Erstes einen angemessenen Begriff der Gesellschaft.
Dem Münchener Soziologen Armin Nassehi geht es stets um die Praxistauglichkeit seiner Wissenschaft, und zwar nicht erst hinterher als «Anwendung». Vielmehr sind schon seine primären Fragestellungen praktischer Art. In seinem neuen Buch geht es um das Problem, wie eine Gesellschaft zu Veränderungen jenes Kalibers befähigt wird, wie etwa die Klimakrise sie verlangt.
Wie dieser generelle Turnaround nicht zustande kommen kann, ist dabei hinlänglich klar: Dramatische Appelle schaffen das im grossen Massstab nötige radikale Umdenken schon seit einem halben Jahrhundert nicht. Sie bestärken jeweils vorrangig die schon Überzeugten in ihrem Krisenbewusstsein. Den Eingeweihten vermitteln die apokalyptischen Zeitansagen das trotz allem beruhigende Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Übrigen, die sich nicht in diese Community einreihen wollen, schalten versteckt oder offen auf Abwehr.
Gesellschaftliche Praxis ist vor allem von Selbstbestätigung, von Wiederholungen, von der Selbststabilisierung des Bewährten geprägt.
«Auch an multiple Krisen, Transformationsaufforderungen und Zeitenwenden kann man sich gewöhnen.» Mit dieser lakonischen Feststellung beginnt Nassehis Studie über die Schwierigkeiten mit Klimaschutz und anderen gesellschaftlichen Grossbaustellen. Als Soziologe der systemtheoretischen Schule hat er einen wachen Blick für das Beharrungsvermögen gesellschaftlicher Gruppierungen, Konstellationen und Orientierungen. Systeme tendieren zur Selbsterhaltung und sperren sich gegen Unsicherheit erzeugende Veränderungen. Gesellschaftliche Formationen sind zwar nicht zwingend völlig unbeweglich, aber träge. Nassehi: «Gesellschaftliche Praxis ist vor allem von Selbstbestätigung, von Wiederholungen, von der Selbststabilisierung des Bewährten geprägt.» Dies konstatierend, bejaht er ausdrücklich die wachsende Dringlichkeit der Transformationsanforderungen. In diesem Dilemma nun aber einfach auf dem Gewicht der Fakten zu insistieren und den moralischen Druck zu steigern, führe bloss zu wachsenden Widerständen. Deshalb geht es aus Nassehis Sicht primär darum, die bei Transformationsanforderungen wirkenden gesellschaftlichen Mechanismen überhaupt einmal zu verstehen.
Es geht um die Gesellschaft, die schon da ist
Akteure und Aktivisten der Veränderung denken oft in einer Weise, als sässen sie vor einem weissen Blatt Papier, auf dem man den Weg zum angestrebten Ziel – beispielsweise der CO2-neutralen Gesellschaft – sauber entwerfen kann. Doch so geht das nicht. Nassehi wird nicht müde, der Leserschaft zu erklären: Jede Veränderung spielt sich in einer Gesellschaft ab, die schon da ist. Da sind schon die Gruppen von Menschen mit ihren unterschiedlichen Ansichten, die sich keiner Einheitsdoktrin unterwerfen wollen; da ist schon eine komplexe Ökonomie, die weiterlaufen muss; da sind schon Formen des Alltagslebens, die sich vor allem selbst erhalten wollen. Diese retardierenden Kräfte lassen sich nicht mit dem Hinweis auf Transformationsnotwendigkeiten aushebeln.
Der Begriff der Gesellschaft ist gefährlich suggestiv. Er leistet dem Irrtum Vorschub, es gebe da eine Entität, ein Kollektivsubjekt, das durch gemeinsame Werte und Normen zusammengehalten werde, das man adressieren und von dem man bestimmte Einsichten und Verhaltensänderungen fordern könne. Und genau diesem Irrtum sitzen politische Akteure und Konzepte häufig auf. Nassehi nennt dies «Gesellschaftsvergessenheit»: ein Denken, das es sich zu einfach macht, indem es ein illusionäres Gegenüber konstruiert, das keiner Wirklichkeit entspricht. Die Gesellschaft ist keine Grossgruppe, schon gar keine Gemeinschaft, und sie kann deshalb nicht kollektiv handeln.
Krisen machen sichtbar, was als Problematik schon da war, aber geflissentlich übersehen wurde.
Krisen, so Nassehis Befund, wecken unter anderem deshalb Ablehnung, weil sie – als angebliche Ausnahmesituationen – aufzudecken pflegen, was als Problematik jeweils schon da war, aber geflissentlich übersehen wurde: hinter der Klimakrise die Tatsache, dass die moderne Welt schon lange nicht nachhaltig funktioniert; hinter der Migrationskrise der Umstand, dass man schon lange ein Einwanderungsland ist; hinter der Coronakrise die lange latent gebliebenen Risiken der Globalisierung; hinter dem Ukrainekrieg die schon zuvor überfällige Einsicht, dass Geopolitik nicht primär und nicht von sich aus auf Regeln basiert, sondern von rücksichtslosem Machtstreben getrieben ist. Gesellschaftliche Krisen machen latente und verdrängte Gegebenheiten sichtbar. Solche Sichtbarkeit ist gesellschaftlich unwillkommen, weil sie beunruhigt, und diese Beunruhigung ist ein Hauptgrund der negativen Konnotierung von Krisenerfahrungen.
Seitenblick auf die Verschwörungsszene
Verschwörungserzählungen beruhen auf genau dieser Struktur von Krisenerfahrungen. Sie behaupten stets, etwas sichtbar zu machen, was die dem Mainstream Folgenden nicht sehen – nicht sehen können oder wollen. Solche modernen Mythen drehen den vertrauten Effekt des Sichtbarwerdens von Verdrängtem, der in Krisenerfahrungen steckt, gewissermassen um und erfinden zu sichtbaren Phänomenen verborgene (und von den Mächtigen absichtsvoll verborgen gehaltene) Ursachen. Verschwörungserzählungen können noch so unsinnig sein, sie werden unerschütterlich geglaubt, weil sie an vielfache moderne Krisenerfahrungen andocken.
Verschwörungserzählungen als genuin moderne Erscheinungen berufen sich stets auf Pluralismus, Meinungsfreiheit und Demokratie. Doch sie tun dies in einer Weise, welche die Grundlagen des demokratischen Entscheidens und Handelns zersetzt. In ihrer absoluten Gewissheit des Rechthabens sprengen Verschwörungsgläubige den basalen Konsens, dass nach ausgefochtener Differenz die unterliegende Partei zwar nicht ihre Meinung ändern, aber den demokratisch erzielten Entscheid loyal mittragen muss.
Nassehis Seitenblick auf die Verschwörungsszene illustriert den Umstand, dass Demokratien gerade durch ihr Funktionieren ihre eigenen fragilen Voraussetzungen immer wieder sichtbar machen. Dieser Umstand ist für die ins Haus stehenden Transformationen essentiell. Nassehi plädiert dafür, die Pluralität und Trägheit der Gesellschaft, die nicht kollektiv agieren kann, zu respektieren und statt des generellen Ansatzes der einen grossen Transformation «aus einem Guss» die je eigenen Handlungsmöglichkeiten der verschiedenen Akteure zu nutzen.
Handeln in den Grenzen des Demokratischen
Demokratische Politik bedeutet Selbstbegrenzung des politischen Handelns. Die Grenzen sind zunächst rechtlicher Art: Die Demokratie gibt sich Regeln in Rechtsform, an die sie sich freiwillig bindet. Zudem ist Politik in diesem System notwendigerweise darauf ausgerichtet, sich auf lösbare Probleme und rechtskonform durchsetzbare Konzepte zu beschränken. Zu kollektiver Krisenbewältigung ist sie daher weder in der Lage noch befugt. Die Kollektive, auf die sich autoritäre Politik zu berufen pflegt, werden von Machthabern gewaltsam geformt, und die daraus bestenfalls mögliche Krisenbewältigung beruht denn auch stets auf Indoktrinierung, Abschottung und Gewalt – ein politisches Rezept, das unter demokratischen Bedingungen ganz einfach nicht in Frage kommt.
Demokratische Politik bedeutet Selbstbegrenzung des politischen Handelns. Zu kollektiver Krisenbewältigung ist sie daher weder in der Lage noch befugt.
Nassehi diskutiert in dem kleinen Buch eingehend die Frage der Verteilungskonflikte beim Klimaschutz. Eine unter Klima-Aktivisten verbreitete kapitalismuskritische Position sieht in der Verteilungsproblematik sozusagen den Kern der Sache. Der Autor hält von dieser zugespitzten Sichtweise wenig, einerseits weil historische Erfahrungen die einseitig den Kapitalismus beschuldigende Lesart nicht stützen, andererseits weil Nassehi die Konflikte um Ziele politischen Handelns für zumindest ebenso bedeutsam hält wie diejenigen um die Ressourcen- und Güterverteilung.
Zielkonflikte sind der Politik schon deshalb eingeschrieben, weil Letztere doppelcodiert ist: Sie beansprucht einerseits die Fähigkeit des Lösens von Sachproblemen; andererseits muss sie immer Akzeptanz für ihr Handeln schaffen, um Konzepte in der Gesellschaft umsetzen zu können und um wiedergewählt zu werden. Zudem zeitigt jedes politische Handeln immer auch unerwartete Nebenfolgen, was die Zielsetzungen jeweils nachträglich wieder problematisiert und so permanent zum Thema macht.
Fiktive Adressaten der Appelle
Da die Gesellschaft nicht aus einem Guss ist, gibt es auch keine Transformationsstrategien aus einem Guss. Die Demokratie entspricht politisch dem differenzierten System der Gesellschaft und ist nicht auf kollektive Bewältigung kollektiver Krisen angelegt. Nicht wenige, so Nassehi, träumten daher angesichts der Klimakrise von autoritären Instrumenten: «Es weht manchmal ein chinesischer Wind.» Doch die Betonung des Gemeinsamen ist, auf die Gesellschaft angewendet, selbst ein Krisenphänomen. Nassehi verweist hier auf das epochale Buch des Philosophen Helmut Plessner von 1924 «Die Grenzen der Gemeinschaft». Man fühlt sich auch an den rituellen und inflationären Gebrauch des Adverbs «gemeinsam» in der aktuellen deutschen Politsprache erinnert.
Der Fehlschluss aller Engagierten, aus der Notwendigkeit folge automatisch die Möglichkeit, entspricht einer Denkfaulheit, die sich damit zufriedengibt, das Richtige zu wollen.
Zur Klimathematik melden sich scharenweise wissenschaftliche und publizistische Stimmen, nach denen die Lösung der Problematik letztlich denkbar einfach ist: Man muss bloss den CO2-Ausstoss eindämmen – und zwar jetzt. Einfach mal machen! Keine Ausreden mehr! Dieses Denken setzt fiktive Adressaten voraus («die» Gesellschaft, «die» Wirtschaft, «die» Politik) und es beruht auf der Fehlannahme, das als gut und zustimmungsfähig Angenommene setze sich quasi von selbst durch, wenn nur wirklich demokratisch entschieden würde. Darin steckt nicht nur eine grosse Portion Selbstentlastung (ich zeige euch die Lösung; wenn ihr dieser nicht folgt, ist es nicht meine Schuld), sondern auch ein «Fehlschluss von der Notwendigkeit auf die Möglichkeit». Auch dieser «Fehlschluss aller Engagierten» hat eine Entlastungsfunktion: Statt sich mit der realen Gesellschaft auseinanderzusetzen, übt er sich in Bekenntnissen. Nassehi rügt daran eine «Denkfaulheit, die sich damit zufriedengibt, das Richtige zu wollen.»
Was es heisst, die Gesellschaft, die schon da ist, bei Transformationsanstrengungen im Auge zu behalten, illustriert Nassehi an einer fiktiven deutschen Mittelstandsfamilie. Er skizziert deren finanzielle und zeitliche Ressourcen und Zwänge, die sozialen Einbettungen und Abhängigkeiten, die Lebensentwürfe und familiären Rollen. Je detaillierter dieses Setting betrachtet wird, desto klarer entsteht ein Bild der Stabilität, die aktiv erstrebt und mit den Mitteln, die den Beteiligten zugänglich sind, erhalten und verteidigt wird. Grund dieser Systemträgheit ist nicht Veränderungsaversion oder mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit grosser Reformen, sondern der Umstand, dass die einzelnen Komponenten des Arrangements sich gegenseitig bedingen und stützen und dadurch – so lange die Dinge «normal» laufen – ein überaus stabiles Gebilde erzeugen.
Daraus folgt für Nassehi nicht etwa, dass sich nichts ändern könne, sondern: «Die Veränderung von Verhalten muss sich in den entsprechenden sozialen Bezügen bewähren können – sonst wird sie sich nicht einstellen, so schlicht sind die Dinge.» Werden der Beispielfamilie Veränderungen abverlangt, die ihre Stabilität stören, so wird sie sich in ihrer Autonomie angegriffen fühlen und aktiv oder passiv Widerstand leisten. – Das Scheitern des Heizungsgesetzes in Deutschland hat dies modellhaft vorgeführt.
«Die Veränderung von Verhalten muss sich in den entsprechenden sozialen Bezügen bewähren können – sonst wird sie sich nicht einstellen, so schlicht sind die Dinge.»
In Diskussionen wird die Feststellung, dass gesellschaftliche Konstellationen träge seien, oft skandalisiert. Die beobachtende Deskription wird als normative Aussage missverstanden. Auf aktivistischer Seite fehlt oft die Bereitschaft, die nötigen Anstrengungen zum Verstehen von Systemzusammenhängen aufzubringen. Nassehi verweist auf biologische, psychische, kulturelle und soziale Systeme, in denen sich der stets gleiche Grundtatbestand abbildet. In systemtheoretischer Begrifflichkeit drückt Nassehi das so aus: «Systeme sind in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt stets träger als die Umwelt.» Und er betont, das sei auch im politischen Bereich «keine Charakter-, sondern eine Strukturfrage – und eine Systemfrage».
Perspektivenwechsel: Das Problem muss zur Lösung passen
Gegenüber seinem eigenen Biotop der akademisch räsonierenden Klasse geizt der Autor nicht mit Sarkasmus, indem er bemängelt, die einschlägigen Expertenkulturen würden sich nicht ausreichend um Empirie bemühen und die transformationsorientierten Milieus würden allzu oft vor allem ihre habituelle Aufforderungskommunikation betreiben. Auf solch gutes Zureden reagiert die Gesellschaft notorisch indifferent, weil sie dafür schlicht kein Adressat ist.
Nassehi schlägt einen Perspektivenwechsel vor. Statt populistisch jeweils allein die Karte der Identität oder kapitalismuskritisch die der Verteilungsgerechtigkeit zu spielen (beides ist in der erforderlichen grossen Transformation durchaus wichtig), sollte man sich vorweg klar machen, dass für eine erfolgreiche Veränderung stets das Problem zur Lösung passen muss. Auch dies ist zunächst Deskription: Politik ist generell nur an Problemen interessiert, für die sie Lösungen meint anbieten zu können. Zugespitzt formuliert Nassehi: «Denn das ist es, was politische Programme tun: Sie müssen Problemlagen selbst erzeugen, damit diese zu ihren Lösungen passen.»
Das bedeutet im Fall der Klimafrage, dass diese politisch mit der sozialen Frage verknüpft werden muss. Dies auf der einen Seite, weil sie so besser zu Lösungen passt, wie sie in den Repertoires der Parteien vorrätig sind. Auf der anderen Seite lassen sich breite Milieus wie die mittelständische Beispielfamilie nur ansprechen, wenn deren verdeckte und durch die Krise sichtbar werdende Vulnerabilität politisch thematisiert ist.
Hilfreich für das Verständnis gesellschaftlicher Grossbaustellen ist das Werk des Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi aus den 1940er Jahren, «Die grosse Transformation», eine Geschichte des Kapitalismus. Er hat aufgezeigt, dass die Gesellschaft sich selbst transformiert; sie wird nicht durch bestimmte Akteure oder aufgrund von Programmen und Projekten transformiert. Polanyi liefert das Gegenbild zu jener verbreiteten Vorstellung, jemand denke sich eine Lösung für gesellschaftliche Probleme aus und lasse die Personen, Institutionen und sonstigen Beteiligten nach einem Gesamtplan agieren – wie Zinnsoldaten im Sandkasten. Nassehi dazu: «Das Schöne an Zinnsoldaten ist: Sie tun, wie ihnen geheissen, sie reagieren nicht selbst auf das, was der Transformator macht.»
Veränderungen moderieren, die bereits geschehen
Solche Kontrollphantasien solle man aufgeben, rät Nassehi. Die meisten Ansätze zur Problembewältigung sind nach seiner Meinung «viel zu pathetisch, zu gross, zu epochal, zu programmatisch, zu überzeugend.» Letzteres im Sinne einer Überzeugungskommunikation der grossen Gesten, die mit einem Anspruch auf definitive Erkenntnis operiert. Stattdessen sollten politische Akteure eine moderierende Rolle einnehmen. Klimalösungen, so Nassehi, werde man nur hervorbringen, wenn man damit auf Märkten erfolgreich sein kann, wenn man mit den Entscheidungen wählbar bleibt, wenn man Übersetzungsleistungen von wissenschaftlicher Wahrheit in praktikable Lösungen organisieren kann, wenn das auch Rechtssicherheit ermöglicht.
Es gilt demnach, die Beteiligten einzubeziehen, ihr Recht des Neinsagens zu politischen Vorhaben zu respektieren. Will man dies nicht konzedieren, so bleibt nur das Optieren für ein starkes Wir, welches entweder das Sprechen eingrenzt oder die Störenden ausgrenzt. Die Alternative zu dieser autoritären Versuchung besteht darin, diejenigen Ansätze zu klimaschonendem Wirtschaften und Verhalten zu stützen und zu multiplizieren, die dezentral und autonom entwickelt werden.
Es gilt, die Beteiligten einzubeziehen, ihr Recht des Neinsagens zu politischen Vorhaben zu respektieren.
Sowohl die Politik wie die «räsonierende Klasse» haben grossen Nachholbedarf beim Wahrnehmen der Veränderungen, die bereits geschehen: Unternehmen entwickeln aus wohlverstandenem Eigeninteresse ressourcenschonende und CO2-neutrale Verfahren; Architektur und Städtebau arbeiten an neuen Konzepten für besseres Klima; Mobilitätssysteme und Energieversorgung sind auf Alternativen aus; die Ernährung bewegt sich weg von tierischen Produkten; Batteriehersteller setzen auf ökologisch unbedenklichere Stoffe. Das alles geht ohne zentrale Strategie und Steuerung vor sich. Die moderne Gesellschaft ist veränderungs- und diversitätsaffin und ermöglicht so Evolutionen.
Diese Qualität, die sich im bereits laufenden anonymen Programm der kleinen Schritte manifestiert, kann unterstützt werden mit einem Wechsel von kurzen zu langen Zeitperspektiven – politisch, wirtschaftlich, kulturell. Nassehi: «Gesellschaftliche Transformation ist fast nie ein Programm, sondern muss sich praktisch ereignen. Man muss sich an die Dinge gewöhnen können, die neu sind, dann verlieren sie ihre Bedrohlichkeit.»
Zum Schluss seiner Studie hält Nassehi ein beredtes Plädoyer für die kleinen Schritte, die eben «keine Schrumpfform, keine defizienten Modi grosser Schritte» seien. Vielmehr werde mit ihnen der Gesellschaft evolutionär auf die Sprünge geholfen. Den Einwand, bei diesem Verfahren laufe uns die Zeit davon, hält er für eine «katastrophische Redeweise», in der sich wohlbestallte Kommentatoren des gesellschaftlichen Prozesses gefielen. Nassehi hält es mit dem Capability- oder Befähigungsansatz des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Amartya Sen, der postuliert, man könne von Menschen nur verlangen, wozu sie persönlich, materiell, strukturell in der Lage sind oder wozu man sie in die Lage setzen kann. Hilfreich ist nur eine Ethik, die nicht generelle Forderungen stellt, sondern auf konkreten Optionen beruht.
Mit seinem kleinen Buch hat Armin Nassehi eine gewichtige Studie zum Problem der gesellschaftlichen Transformation vorgelegt. Der Perspektivenwechsel, den er erläutert und fordert, hat das Potenzial, die festgefahrenen Diskussionen zu deblockieren. Voraussetzung dafür ist allerdings die Bereitschaft, sich auf eine nichttriviale Sicht des Universalphänomens Gesellschaft einzulassen, die eben keine Gemeinschaft, kein Adressat und kein Akteur ist, sondern eine systemförmige und nicht fassbare Grösse.
Armin Nassehi: Kritik der grossen Geste. Anders über die gesellschaftliche Transformation nachdenken, C. H. Beck 2024, 224 S.