Unter deutschen Politikwissenschaftlern gab es jüngst einen exemplarischen Streit um eine moralische Frage. Es ging um die deutsche Katastrophe schlechthin, genauer: um den heutigen Umgang mit dem Dritten Reich. Als Folge der heftigen Querelen wurde der nach Theodor Eschenburg (1904-1999) benannte renommierte Preis der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) Ende letzten Jahres abgeschafft.
Eschenburgs posthumer Sturz
Grund war das Zwielicht, in das der Namenspatron geraten war. Im Jahr 2011 erst hatte eine historische Recherche enthüllt, dass Eschenburg 1938 als Leiter einer Prüfstelle der «Reichsgruppe Industrie», einer vom NS-Staat gesteuerten Spitzenorganisation der Wirtschaft, massgeblich an der sogenannten Arisierung eines Berliner Unternehmens beteiligt war. Wilhelm Fischbein, jüdischer Inhaber jener Kunststoff-Fabrik, wurde enteignet und sein Besitz in «arische» Hände gegeben.
Schon früher war bekannt, dass Eschenburg der SS angehört hatte; er selbst hatte behauptet, schon nach drei Monaten wieder ausgetreten zu sein. Für diesen Austritt fand jedoch die neue Untersuchung keinen Beleg. Zudem tauchte eine Geschichte auf, Eschenburg habe vor dem Arisierungsfall einmal von der Vertreibung jüdischer Geschäftsleute profitiert. Es ging um zwei Kompagnons der Kanzlei, in die er 1933 in Berlin eingetreten war.
Diese erst spät bekannt gewordenen Fakten kontrastieren scharf mit Eschenburgs Position in der Nachkriegszeit. In der deutschen Politikwissenschaft war er eine geradezu legendäre Gestalt. Eschenburg trug dazu bei, das wissenschaftlich zunächst nicht unumstrittene Fach an den Universitäten zu etablieren. In der jungen Bundesrepublik setzte er sich für politische Bildung ein. Durch seine rege publizistische Tätigkeit erlangte er Bekanntheit und Einfluss und wurde gar als «Lehrer der Demokratie» verehrt.
Debatte deutscher Politologen
Nach den Enthüllungen über Eschenburgs aktive Mitwirkung im NS-Staat war der Streit um den nach ihm benannten Preis unausweichlich geworden. Dieser unterstellte ja nicht nur die wissenschaftliche Vorbildlichkeit des Namengebers. Da sich diese Wissenschaft nun einmal mit der Politik der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart – also gerade in Deutschland zwingend auch mit dem Nationalsozialismus – befasst, musste man beim Namenspatron diesbezüglich politisch-moralische Glaubwürdigkeit voraussetzen können.
In dieser Hinsicht deckten die Enthüllungen erschreckende Defizite auf. Eschenburg hatte nicht nur eine belastete Vergangenheit, sondern er war zudem einer jener eifrigen Mitläufer und Profiteure, die sich nach dem Fall des Dritten Reiches an nichts erinnern wollten und die eigene Vergangenheit kaschierten oder verharmlosten.
Der Fall Eschenburg auferlegte der DVPW eine Debatte um politische Moral, die offenbar einem Teil ihrer Mitglieder unangenehm war. Es kam zu bösen Anwürfen und Austritten. Die Auseinandersetzungen drehten sich nicht allein um Eschenburg und den von ihm praktizierten Umgang mit eigener und nationaler Vergangenheit, sondern ganz grundsätzlich um Wissenschaft, Politik und Moral. Die Diskussionen beschäftigen neben der sozialwissenschaftlichen Sparte auch das deutsche Feuilleton. Der Fall ist in der Tat exemplarisch und instruktiv.
Idealistische ethische Doktrin
Unter den zahlreichen Voten zur Eschenburg-Debatte verdient ein jüngst im «Merkur» erschienener Aufsatz besondere Beachtung. Helmut König, Professor für Politikwissenschaft in Aachen, entwickelt darin eine ethische Doktrin für moralisches Verhalten unter diktatorischen Regimen. König legt die Messlatte hoch. Seine Bezugspunkte sind Platons Idealismus und Kants kategorischer Imperativ. Moral, so König, ist nicht nach ihrem Erfolg und Nutzen zu beurteilen. Sie folgt rein intrinsischen Zielen, indem sie eine Übereinstimmung des handelnden Subjekts mit sich selbst, seinen Idealen, seinen Wertvorstellungen zum Massstab macht. Helmut König sieht eine ähnlich gelagerte radikale Haltung auch als Kern und Triebkraft christlicher Moralvorstellungen.
Mit dieser philosophisch anspruchsvollen Begründung seiner moralischen Grundsätze handelt sich König allerdings die Schwierigkeit ein, dass eine so verstandene Moral unter Umständen nur schwer Anschluss findet ans Politische. Denn dieses ist durchaus an Erfolg und Nutzen zu messen. König selbst zieht zur Beurteilung von Eschenburgs Verhalten in der NS-Zeit denn auch (zu Recht!) praktisch-politische Kriterien heran: Kooperation mit dem NS-Regime, so König, sei deshalb moralisch falsch gewesen, weil es für Menschen an verantwortlichen Positionen unter der Naziherrschaft keinen Spielraum für eigenverantwortliches Handeln gegeben habe.
Untaugliche Rechtfertigungen
König zerpflückt die oft gehörte Rechtfertigung, jemand habe mitgemacht, «um Schlimmeres zu verhindern». Dies sei in jedem Fall eine nachträgliche Beschönigung. Zudem sei die ebenfalls zur Begründung der Kollaboration erhobene Behauptung falsch, unter totalitärer Herrschaft sei es – wenn man nicht Verfolgung und politische Kriminalisierung in Kauf genommen habe – unmöglich gewesen, tätige Mitverantwortung abzulehnen. König insistiert auf seiner entgegengesetzten Einschätzung: Es sei durchaus möglich gewesen, sich verantwortlichen Positionen, wie Eschenburg sie 1938 in Berlin bekleidete, zu entziehen.
Dieser politisch-ethischen Argumentation kann man gewiss folgen. König stellt einerseits den moralischen Grundsatz auf, hinsichtlich der Kollaboration mit dem NS-Staat sei jedermann zu einem kategorischen Nein verpflichtet gewesen, das nicht nach Erfolg und Nutzen dieser Haltung fragt. Er unterstreicht diese Forderung mit dem Hinweis, sich herauszuhalten sei neben Anpassung und Widerstand der durchaus gangbare «dritte Weg» gewesen. Andererseits weist König die vorgeblich «moralischen» Motive von Mitläufern zurück, die ihre Beteiligung am despotischen System mit der seinerzeitigen Absicht begründeten, «Schlimmeres zu verhindern».
Der Versuch, das Mitmachen in der Nazizeit als moralische Haltung zu legitimieren («Verhinderung von Schlimmerem»), schlägt offensichtlich auch im Fall Eschenburg fehl. Nach den Enthüllungen der letzten Jahre sind derartige Beschönigungen jedenfalls in dieser Kausa anscheinend verstummt. Doch König macht sich über diesen Fall hinaus anheischig, den historischen Beweis nicht nur für die NS-Zeit insgesamt, sondern für alle totalitären Herrschaftssysteme liefern zu können. Er glaubt belegen zu können, dass eine Begründung von Kollabration mit dem Argument, «Schlimmeres verhindert» zu haben, grundsätzlich nicht überzeuge.
Moral zu eng gefasst
Diese anspruchsvolle These zu belegen oder zu widerlegen dürfte schwierig sein. Doch angenommen, König habe Recht und könne diesen Nachweis erbringen: Selbst dann ist sein Verständnis von Moral, das einzig die Übereinstimmung mit sich selbst als Kriterium gelten lässt, nicht zwingend – und auch nicht sinnvoll.
Es gibt ja Verhältnisse, in denen das herrschende System zwar das Begehen von Unrecht verlangt, aber nicht alle Handlungsspielräume total verschliesst. Hier kann das «Mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern» eine moralisch respektable Möglichkeit sein. Der Polizeihauptmann Paul Grüninger ist das Beispiel dafür: Er stand unter starkem behördlichem Druck, jüdische Flüchtlinge an der Schweizer Grenze zurückzuweisen. Mit gefälschten Dokumenten ermöglichte er etwa 3'600 an Leib und Leben bedrohten Personen unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Aufnahme in der Schweiz.
Konzepte und Ressourcen der Moral
Damit jemand in einem derartigen Zwiespalt zwischen politischen Anweisungen und dramatischer Flüchtlingsnot so wie dieser zwar korrekte und zuverlässige, aber dann doch «störrische» Beamte handeln kann, braucht es mehr als bloss ein abstraktes moralisches Prinzip. Nebst der intrinsischen Motivation, wie König sie beschreibt, waren auch der starke Antrieb zu Mitmenschlichkeit und Solidarität sowie eine clevere Abschätzung der Erfolgsaussichten im Spiel. Entschluss und Mut, das Befohlene zu verweigern, stützten sich – philosophisch gesprochen – sowohl auf idealistisch-kategorische als auch auf humane (bei Grüninger auch religiös unterlegte) sowie auf utilitaristische Prinzipien.
Moral erweist und bewährt sich immer am Einzelfall. Generalisierungen und Systematiken sind heikel. Mit der gebotenen Vorsicht kann man soviel sagen: Eine rigorose Beschränkung, wie König sie mit seiner von Platon und Kant inspirierten idealistischen Sicht vornimmt, schliesst unnötigerweise ganze Welten des philosophischen Denkens über Moral aus.
Nicht in jedem moralischen Dilemma führt die Methode des sokratischen Gesprächs zur verlässlichen Orientierung am Ideal, und der Kant’sche kategorische Imperativ schält nicht aus jedem Problem die essentielle Entscheidungsfrage heraus. Es gibt moralische Fragen, bei denen vielleicht eher die Tugendlehre des Aristoteles fruchtbar ist. Andere Situationen appellieren an die humane Fähigkeit zum Mitleiden und die Haltung der Solidarität. In anderen Fällen können die utilitaristischen Konzepte der angelsächsischen Aufklärer und Rationalisten erhellend sein. Zeitgenössische sprach- und diskurstheoretische Ansätze schliesslich haben, weil sie vor heutigen Problemhorizonten entwickelt wurden, bei der Analyse moralischer Herausforderungen nicht selten ein Heimspiel.
Intuition und Philosophie
«Schwierig», wie es die Überschrift sagt, ist Moral nicht so sehr im Vollzug, sondern im Nachvollzug: Moralisches Verhalten zu beschreiben, zu erklären, zu kritisieren, ist eine Disziplin der Philosophie. Und die kann schon deshalb nicht einfach sein, weil sie stets hinter die Phänomene der Erfahrungswelt zu schauen versucht. Reflexion über Moral – ihre Gründe und Antriebskräfte, ihre Kriterien und Leitvorstellungen, ihre Anwendungen und Prüfsteine – arbeitet mit Abstraktion und Schemata, also mit Verfahren, die dem konkreten, lebendigen, Tun fern sind.
Muss man demnach Philosophie studiert haben, um moralisch handeln zu können? – Natürlich nicht! Glücklicherweise gibt es so etwas wie eine moralische Intuition, die spontan funktioniert. Sie erlaubt in den meisten Situationen moralisch zu entscheiden, ohne lange nachzudenken. (Wie man einen solchen alltagstauglichen Moralkompass erwirbt und wie man ihn funktionstüchtig hält, dieses weite Feld soll hier nicht beackert werden.)
Reflexion ist vor allem in zwei Situationen gefragt: erstens in neuartigen oder aus anderen Gründen komplizierten, schwierig zu überschauenden Situationen; zweitens in der Diskussion über moralisches (oder unmoralisches) Verhalten. In beiden Fällen kommt Philosophie ins Spiel – ob man das dann so benennt oder nicht, ist unwichtig.
Teil 1 ist am 6. März erschienen.