Indien-Reisende erinnern sich vielleicht an die Lastwagen auf den Landstrassen mit der farbig aufgepinselten Aufschrift „OK TATA“ hinten an der Ladebühne. Sie drückte die Volksmeinung aus, dass ein Lastwagen die Marke „Tata“ zu tragen hatte, um „OK“ zu sein. Manchmal stand dann auch die Aufforderung darunter, vor dem Überholen zu hupen – Horn Please! Dann kam der Abschiedsgruss, der englischen Kindersprache entnommen: „Ta-Ta“.
Diese Sprüche aus dem indischen Verkehrsalltag kamen mir in den Sinn, als Zeitungsberichte letzte Woche plötzlich das Ende von Indiens bestgeachtetem Unternehmen in den Raum stellten: Ta-Ta für Tata?, fragte ich mich, wenn nicht für den stolzen Grosskonzern (Umsatz: 103 Mia. $), so doch für dessen allbekannte und hochgeachtete Brand?
Denn Tata stellte ja nicht nur Lastwagen her, sondern über hundert beliebte Alltagsprodukte. Vor einigen Jahren beschrieb ein Werbefilm den Arbeitstag einer Mittelklasse-Inderin, die vom Erwachen – Wecker von Titan – bis zum Schlaftee – Tetley – nur von „T“-Produkten begleitet wird – Salz, Kaffee-Bars, Geschirr, Autos, Computer-Software, Sonnenbrillen, Handy-Server, Luftkühler, Strom, Hotelzimmer, Bettzeug, Mode, Schuhe, usw. Dass eine solche Alltagsgeschichte als Werbefilm daherkommen durfte, zeigte, dass sich der indische Konsument bei dieser Umarmung ganz wohl fühlte, während mir schon Orwell in den Sinn kam.
Königsmord
Und nun dies: Cyrus Mistry, vor vier Jahren zum Präsidenten der Holdinggesellschaft – und einer Reihe von Tochterunternehmen – berufen, wurde fristlos entlassen. Und – unerhört für diesen Gentlemen’s Club – der Giftbecher wurde ihm ausgerechnet an einer VR-Sitzung der Holdinggesellschaft Tata Sons serviert, die er selber präsidierte. Der Antrag zu seiner Entlastung wurde über das Traktandum „Varia“ eingeschmuggelt. Zum Any Other Business from the Chair gehörte auch ... dessen Entlastung.
Wer hinter diesem Königsmord stand, wurde rasch klar, als der Verwaltungsrat den Chairman Emeritus Ratan Tata interimistisch auf den Schild hob. Tata ist das gewichtigste Mitglied des Board, denn er vertritt die Tata Trusts, mit zwei Dritteln Anteil Hauptaktionäre von Tata Sons. Und er vertritt die Familie, die zwar nur noch etwa 2 % des Aktienkapitals aufbringt, dafür den Namen trägt, der sie mit dem Gründer der ersten indischen Weltfirma verbindet.
Diese quasi dynastische Erbfolge wurde vor vier Jahren unterbrochen, als der Junggeselle Ratan Tata, ohne Familien-Nachfolger weit und breit, den damals 44-jährigen Mistry zu seinem Nachfolger kürte. Mistry ist ein zahlenverliebter Industriemanager, er ist wie Tata Parse, und vor allem gehört er dem Clan des Pallonjee-Baukonzerns an, der mit rund 18 % der grösste Einzelaktionär von Tata Sons ist.
100 Milliarden Umsatz
Fünfzehn Jahre zuvor hatte Ratan Tata eine Altersbegrenzung von 75 für seine Topmanager durchgesetzt. Er wurde damit die altgedienten Chefs der grossen Tochterfirmen los – Tata Motors, Tata Power, Tata Steel, Tata Chemicals, Indian Hotels – die sich wie kleine Könige – statt als Vasallen – gebärdeten.
Niemand hatte es damals für möglich gehalten, dass RNT dies wagen würde. Denn er galt als schwach und unerfahren – er hatte in den USA Architektur studiert – und er entstammte einer armen Seitenlinie des Tata-Clans. Aber hinter dem scheuen und wortkargen Mann verbarg sich nicht nur ein passionierter Flugpilot und Autofreak, sondern auch der Wille, den ausufernden Konzern wieder stärker an die Marke und dessen Treuhänderin – die Tata Sons-Holding – zu binden.
Als Tata mit 75 vor vier Jahren als Vorstandsvorsitzender zurücktrat, wurde die Pensionierung mit Lobeshymnen gefeiert. Er hatte den Konzern in zwanzig Jahren von 6 auf 100 Milliarden $ Umsatz gehievt. Würde er nun, als Vorsitzender der karitativen Stiftungen, auch die philanthropische Tradition des Konzerns neu stärken? Keineswegs, lautet jetzt der Vorwurf des geschassten Vorsitzenden Mistry. Tata habe vielmehr die Aktienmacht der Stiftungen benutzt, um weiterhin die Konzernfäden zu ziehen.
Ständiges Dreinschwatzen des Chefs
Dass er nun die Fäden zu einer Schlinge um Mistrys Hals festgezogen hat, ohne konkreten Anlass, deutet nicht eben auf Altersweisheit. Warum, so wird allenthalben kopfschüttelnd gefragt, konnte Mistry – erst der sechste Tata-Chef in der fast 150-jährigen Firmengeschichte – seinen Fünfjahresvertrag nicht beenden, bevor ihm die Türe gewiesen wurde? Er habe der Firma nicht das erwartete Wachstum gebracht, erklärte der Verwaltungsrat in einem trockenen Communiqué – als genüge dies, um den Firmenpräsidenten Knall auf Fall vor die Tür zu stellen.
Mistry liess die Kritik nicht auf sich sitzen. Zwei Tage nach dem schmählichen Abgang schrieb er ein langes E-Mail an den Verwaltungsrat, das keinen Zweifel daran liess, dass er den Handschuh aufgegriffen hatte. Wenn der Gesamtkonzern so langsam gewachsen sei und magere Gewinne abwerfe, lautete Mistrys Replik, dann liege es an der ständigen Einflussnahme des Chairman Emeritus. Mit seiner „Langfrist-Strategie“ habe er ihn daran gehindert, viele der über einhundert Geschäftssparten abzustossen.
Tatas Faible für Autos und Flugzeuge zum Beispiel habe es Mistry nicht erlaubt, das Projekt des Nano-Kleinautos – ein spektakuläres Fiasko – zu beenden. Zwei Joint Venture-Verträge mit Air Asia und Singapore Airlines, die zusammen wenig Sinn ergaben, habe Tata ihm praktisch unterschriftsreif auf den Schreibtisch geworfen. Die kostspielige (und weitgehend fremdfinanzierte) Akquisition der britisch-niederländischen Stahlfirma Corus – 13 Mia. $ „ sei dafür verantwortlich, dass die Firma in der Stahlkrise der letzten Jahre ausgeblutet wurde – sie kostet den Konzern 1.5 Mio. $ pro Tag. Dasselbe gelte für die Hotelgruppe (mit dem Flaggschiff Taj Mahal Hotel). Auch hier habe Tatas Einmischung, namentlich in Personalfragen, die chronische Verschuldung vertieft.
Reputationsschaden
Die Gruppe als Ganzes bleibt allerdings weiterhin ein Liebling der Börsen – die Marktkapitalisierung hat sich in den letzten 15 Jahren versiebenfacht. Dies liegt aber vor allem daran, dass praktisch achtzig Prozent der Gewinne von Tata Sons zwei Tochter-Firmen zu verdanken sind. Tata Consultancy Services ist, als Asiens grösste Softwarefirma, eine Cash Cow, und Jaguar Land Rover war der einzige wirklich erfolgreiche Firmenkauf von Ratan Tata gewesen.
Ein grosser Teil der Gewinne von TCS und JLR (ca. 4 Mia. $) wird Jahr für Jahr von Tata Sons zurückbehalten und für die siechende Stahlfirma Tata Motors, die Hotel-Gruppe und das katastrophale Joint Venture mit der japanischen Firma DoCoMo aufgewandt, damit die Gruppe als Ganzes noch einigermassen gut dasteht. Dies sei langfristig nicht verantwortbar, sagt Mistry.
Dies war vor kurzem auch die Meinung des Londoner Economist. Der Tata-Konzern sei ein „beeindruckender aber schwerfälliger Dickhäuter“, lautete das Fazit einer detaillierten Analyse. Es wird in Bombay darüber spekuliert, ob dies vielleicht der Auslöser war, der Ratan Tata veranlasste, die Notbremse zu ziehen. Der Konzern erwirtschaftet zwei Drittel seines Umsatzes im Ausland, und der internationale Ruf ist daher wichtig. Die Panikreaktion könnte nun allerdings sicherstellen, dass die Tata-Brand – das wertvollste Aktivum von Indiens grösstem Mischkonzern – einen grossen Reputationsschaden erleidet.
Forderung nach mehr Staatswirtschaft
Kein Kommentator konnte bisher erklären, warum ausgerechnet der bedächtige und konfliktscheue RNT zu dieser Guillotine griff. Und wie unbedacht der Rauswurf war, zeigte sich nur zwei Tage danach. Mistry tauchte plötzlich wieder im Bombay House auf, dem altehrwürdigen Firmensitz im Zentrum Bombays. Er hatte eine geplante Sitzung des Verwaltungsrats von Tata Global zu präsidieren, der die Firmen Tata Tetley und JLR gehören. Nicht nur dies – in den kommenden Monaten wird er noch öfter erscheinen, denn er steht weiterhin bedeutenden Tata-Firmen vor. Sie sind (im Gegensatz zu Tata Sons) börsenkotiert, und Tata Sons verfügt in keiner von ihnen über die Aktienmehrheit. Ein Hinauswurf ist zudem an gesetzliche Regeln gebunden, mit Kündigungsfristen und der Absegnung durch die Generalversammlung.
Ratan Tata hat nicht nur seiner eigenen Firma einen Bärendienst erwiesen, der ganze indische Privatsektor droht davon einen Kollateralschaden abzubekommen. Die Tata-Gruppe stach in der Geschäftslandschaft mit ihrem Unternehmer-Ethos hervor. Im Gegensatz zur Mehrheit der von Familien kontrollierten Firmen stand sie für transparente und korruptionsfreie Geschäftspraktiken und setzte sich gesellschaftlich relevante und nachhaltige Strategien.
Es ist noch nicht lange her, dass der indische Staat der Geschäftswelt tiefes Misstrauen entgegenbrachte. Ihr einziges Ziel sei kurzfristiges Gewinnstreben, und das Mittel dazu sei Bestechung, so lautete das Mantra. Es lässt sich heute schon voraussehen, dass die alten Kämpen aus Bürokratie und Politik den abblätternden Putz dieses Unternehmens-Denkmals als Vorwand benutzen werden, wieder mehr Staatskontrollen und Staatswirtschaft zu fordern.