Peter Fischer, früher Direktor des Kunstmuseums Luzern, dann der Klee-Stiftung, ist Gastkurator. Anouchka Panchard, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthaus Aarau, ist Ko-Kuratorin. Beide sind verantwortlich für die Ausstellung „Schweizer Skulptur seit 1945“ im Kunsthaus Aarau.
Die Aufgabe, der sie sich stellen, ist enorm: Es ist die Antwort auf die Frage, wie es um die Schweizer Skulptur seit dem Zweiten Weltkrieg bestellt ist. Wie diese Antwort geben? Das Team entschied sich, möglichst viel Material auszubreiten – insgesamt über 230 Werke, und allein 60 davon aus Beständen der hauseigenen Sammlung.
Die Museumsräume sind buchstäblich voll von Skulpturen. Das Ziel des Teams ist es nicht, ein einziges gültiges Bild dessen zu vermitteln, was die Schweizer Skulptur in dieser Zeitspanne ausmacht. Vielmehr wollen Fischer und Panchard den Besucherinnen und Besuchern unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit ganz verschiedenen Aspekten skulpturalen Schaffens ermöglichen, damit sie sich selbst ein oder gleich mehrere Bilder machen können.
Die Theorie zu ihrem Unterfangen werden die Kuratoren wohl im Katalog, der später erscheinen wird, nachliefern. Die Saaltexte, obgleich informativ, halten sich da zurück. Für Peter Fischer ist es wichtig, dass sich die Besucher in der Ausstellung bewegen, um sie zu „erwandern“. So wird es möglich, die Skulpturen so aus verschiedenen Perspektiven heraus wahrzunehmen und den Beziehungen, die sich zwischen ihnen entwickeln, nachzuspüren.
Skulptur hat es schwer
Erstes Verdienst dieser Ausstellung ist, dass sie dem Thema Skulptur in der Schweizer Kunst überhaupt so breiten Raum gibt. Das gibt es selten, sieht man ab von Veranstaltungen in freier Landschaft wie beim Kloster Schönthal oder alle paar Jahre in Môtiers. Skulptur hat es schwer im Ausstellungsbetrieb. Sie ist oft voluminös, schwergewichtig, gross und beansprucht Platz. Sie auszustellen erfordert eine ausgeklügelte Logistik und entsprechende finanzielle Mittel. Manche Detailprobleme der Präsentation in den Museumsräumen sind zu lösen: Welche Kombinationen eröffnen welche Perspektiven? Was steht wem im Weg oder vor der Sonne? Welche Skulptur erfordert welchen Sockel? Wie sind die Kunstwerke zu schützen, wenn sich viele Besucher im Raum drängen?
Grosse Namen
Dass sich die Skulptur seit Ende des Zweiten Weltkrieges verändert hat, dass die Kunst die Gattungsgrenzen sprengt, dass Malerei zur Skulptur wird und Skulptur Aspekte des Malerischen entwickelt, dass Kinetisches neben Minimalem steht und Kunststoff neben traditioneller Bronze und Eisen – all das ist dem Kuratoren-Team natürlich klar, und sie lassen die vor allem seit den 1960er Jahren manifeste Tendenz zum Nebeneinander des Verschiedenen und Gegensätzlichen im Rahmen ihrer chronologischen und enzyklopädischen Ausstellungsanlage auch aufscheinen. In dieser Enzyklopädie fehlen die grossen Namen der Schweizer Plastik nicht – zum Beispiel Karl Geiser, Otto Charles Bänninger, Remo Rossi, Alberto Giacometti, Robert Müller, Germaine Richier, Jean Tinguely, Dieter Roth, Meret Oppenheim, Daniel Spoerri, Franz Eggenschwiler, Gottfried Honegger, Hans Josephssohn, Otto Müller, Max Bill, Ben Vautier, Fischli/Weiss, Sylvie Fleury, John Armleder, Pipilotti Rist.
Die wichtigsten Vertreter der Schweizer Eisenplastik finden sich vereint im Obergeschoss: Erwin Rehmann, Bernhard Luginbühl, Henri Presset, Silvio Mattioli, Josef Maria Odermatt, Jürg Altherr und andere.
Entdeckungen – für wen?
Daneben gibt es Namen, die sich kaum im Bewusstsein auch eines kunstaffinen Publikums festgesetzt haben. Je nach Wissensstand des Betrachters und der Betrachterin sind Überraschungen und Entdeckungen möglich. Neu für mich waren zum Beispiel Rosa Studer-Koch (1907–1991), Louis Conne (1905–2004), Liliane Csuka (*1935). Isabelle Waldberg (1911–1990), Margerite Saegesser (1922–2011), Thea Weltner (1917–2001) oder Delphine Reist (*1970). Studer-Koch lebte im Kongo und schuf Skulpturen von erzählerischem Charakter, die in ihren Erfahrungen der Fremde wurzeln. Conne ist mit einer eindrücklich-expressiven Kreuzigungs-Plastik vertreten. Csuka absolvierte die Zürcher Schule F+F und experimentiert mit installativen Arbeiten, sinnlichen Materialcollagen und verschiedenen Medien. Isabelle Waldberg arbeitete vor allem in Paris und in den USA und hinterliess ein reiches Werk an filigranen abstrakten Plastiken. Saegesser überrascht mit einer dynamischen raumgreifenden Bronzefigur.
Thea Weltner stammte aus Tschechien, überlebte Theresienstadt, kam vom Modedesign her und schuf Environments von ephemerem Charakter und leichte weisse Figuren aus Gaze, Gips und Drahtgeflecht. Die Genfer Multimedia-Künstlerin Reist, die sich aller möglichen (Alltags-)Dinge bedient, ironisiert mit ihrer Installation „Discours“ das Reden-Blabla vieler Politiker und anderer selbstgefälliger Menschen.
Vermisste Namen oder Überflüssiges
Dass ich diese und andere Künstlerinnen und Künstler nicht kannte, liegt an mir. Anderen Besuchern werden andere Namen unbekannt sein. Sie werden ihre eigenen Entdeckungen machen. Oder sie werden Namen vermissen – warum nicht den „Auch-Plastiker“ Hans Erni oder jemanden, um den ich gar nicht weiss. Auch ich habe natürlich meine Vermisst-Meldungen – zum Beispiel Hannah Villiger (1951–1997), die in den grossen Polaroids ihrer „Skulptural“-Serien ihren eigenen Körper raumbestimmend einsetzte, Gertrud Guyer-Wyrsch (1920–2013), die es nicht zu internationaler Berühmtheit schaffte, die aber in hohem Alter zu einem höchst eigenständigen Werk fand, oder der eben auch als Plastiker tätige Malers Rolf Iseli (*1934), an dessen „Eisenzüpfe“ ich mich seit der documenta 5 (1972) gerne erinnere.
Viele Besucher werden sicher diesen oder jenen Namen überflüssig finden – vielleicht Frantiček Klossner. Gerade über seine Berücksichtigung freue ich mich aber: Sein Selbstporträt aus Eis schmilzt dahin – ein existenzieller und zugleich ironischer Blick auf sich selbst, aber auch auf den Selbstverwirklichungsdrang mancher Künstler. Ob auch ich auf einige der Exponate gern verzichten würde?
Ich wage es, den „Star“ Urs Fischer zu nennen, obwohl ich weiss: Dieser Verzicht wäre für die „Kunstwelt“ völlig unstatthaft angesichts der Weltberühmtheit des Namens – bis hin zur zentralen Präsenz in François Pinaults Bourse du Commerce in Paris und zu seinem Taschen-Design für Louis Vuitton.
Zugute zu halten ist den Kuratoren aber: Sie zeigen, so der mit dem Künstler nicht verwandte Kurator Peter Fischer, die erste von Urs Fischers mit einem brennenden Docht versehenen Wachsfiguren (2001), die den menschlichen Körper sanft dahinschmelzen lassen. (Allerdings ist das Abbrennen des weiblichen Aktes nicht allzu radikal: Im Magazin soll Ersatz verfügbar sein, damit auch künftige Besucher den Anblick der nackten Kerzen-Frau geniessen können.)
So viele Erwartungen wie Besucherinnen und Besucher
Einige dieser Bemerkungen klingen maliziös, ich weiss. Sie wollen nicht als fundamentale Kritik der Ausstellung missverstanden werden. Vielmehr zeigen sie die Schwierigkeiten des ambitiösen Unternehmens auf: Jeder/Jede tritt mit anderem Vorwissen und anderen Erwartungen ans Thema heran, Jeder/Jede wird andere Eindrücke mit nach Hause nehmen. Und das ist gut so und auch gar nicht anders vorstellbar.
Die Ausstellung fordert nicht nur. Da und dort überfordert sie auch, zumal in den offenen Museumsräumen, in denen manche Skulpturen keine „Heimat“ oder keinen Halt finden, wohl aber ein Allzuviel an Nachbarschaft. Das macht die Konzentration auf das einzelne Werk oft schwierig oder gar unmöglich. Ein Beispiel dafür ist Andrea Wolfensbergers wunderbares fragiles Werk „Welle“ unmittelbar neben Christian Marclays Kombination eines Stuhls mit einem Blasinstrument, neben Werken von Hugo Suter und Pierre Alain Zuber und vor Jürg Stäubles dominierend hohem „Block vertikal“ aus schwarzem Sagex. Eine genaue und einordnende Einzelwahrnehmung kann es da nur mehr schwer geben, vor allem, wenn man den Künstlern erstmals begegnet.
Bei aller Problematik des Grossunternehmens, die in vielen Details deutlich wird: Der Versuch, sich einen Überblick über die Schweizer Skulptur nach 1945 zu verschaffen, lohnte sich trotzdem – für die Kuratoren Peter Fischer und Anouchka Panchard und für die Schweizer Kunstgeschichte, aber dank zahlreicher qualitativ hochstehender und signifikanter Arbeiten auch für die Besucherinnen und Besucher, sofern sie sich auf die Sache einlassen und ihre eigenen Gedanken dazu anstellen. Einige Zeit werden sie dafür aber schon investieren müssen.
Urs Lüthi weint
Die im Rathausgarten hinter Kunsthaus und Grossratsgebäude präsentierten monumentalen Skulpturen (Max Bill, Hubert Distel, Peter Hächler, Vincenzo Baviera, Albert Siegenthaler und andere) gewinnen in schöner Umgebung leichter ihr Eigenleben. Auf dem Weg dahin, beim Verlasen der Ausstellung im Kunsthaus, grüsst ein höchst naturalistisch gefertigter lebensgrosser Kopf mit weinenden Augen: Urs Lüthi nimmt mit seinem neusten Selbstporträt Bezug auf seine vor 50 Jahren entstandene Fotoarbeit „Urs Lüthi weint auch für Sie“. Selten hat ein Künstler sein eigenes Älterwerden so direkt thematisiert wie Urs Lüthi. Und selten gab ein Künstler so radikal der Erkenntnis Ausdruck, dass jede Kunst Selbstporträt – und zugleich Selbstentblössung ist.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 26. September.
www.aargauerkunsthaus.ch