Ist es echte Betroffenheit oder Profilierungssucht, die die Schweizer Diplomatie antreibt, bei den Vereinten Nationen eine Initiative nach der anderen zu ergreifen? Der erste Versuch scheiterte: Als Wortführer von fünf Kleinstaaten hatte die Schweiz schon vor Jahren eine Reform des Sicherheitsrats beantragt. Die Gruppe wollte damit die Arbeit des höchsten Organs der UNO wirksamer gestalten. Der bürokratisch verspielt formulierte Entwurf gipfelte in der Aussetzung des Vetorechts bei Abstimmungen über die Ahndung schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er fand aber keine Mehrheit und wurde vergangenes Jahr von der UNO-Generalversammlung versenkt.
Im Juni 2012 startete die Schweiz eine neue Initiative mit weniger hochgesteckten Zielen. Angesichts der Ausschreitungen aller Bürgerkriegsparteien in Syrien soll der Weltstrafgerichtshof (ICC) das Mandat erhalten, die Vorwürfe von Kriegsverbrechen zu untersuchen. Syrien ist dem Statut des ICC nicht beigetreten. In solchen Fällen kann der Sicherheitsrat der UNO die nationale Gesetzgebung übergehen und den ICC als subsidiäres internationales Tribunal mit einem Verfahren beauftragen.
Fast ebenso viele Tote wie im Jugoslawien-Krieg
Dass in Syrien massive Kriegsverbrechen begangen werden, steht wohl ausser Zweifel. Die Regierungstruppen und die Aufständischen weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Untersuchungen durch ein unparteiisches Gericht sind daher ein Gebot der Stunde. Laut der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, hat die Zahl der Todesopfer im syrischen Bürgerkrieg bereits 60'000 erreicht. Das kommt den Opferzahlen der Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien nahe, für die 1996 ein eigenes Kriegsverbrechertribunal geschaffen wurde.
Das Ende der Straffreiheit für Massenmörder in Uniform oder im Nadelstreifenanzug ist die Zielsetzung des 1998 beschlossenen und seit 2002 funktionierenden Weltstrafgerichtshofs. Auch amtierende Präsidenten und Generäle sollen wissen, dass sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können. So wurden gegen den noch immer regierenden sudanesischen Machthaber Omar Al-Baschir und den mittlerweile getöteten libyschen Oberst Muammar Gadafi Anklagen erhoben.
Das Zwischenergebnis der Schweizer Initiative ist nicht schlecht
»In Syrien geschehen grauenhafte Kriegsverbrechen«, erklärte Bundesrat Didier Burkhalter am Freitag in der Tagesschau von SRF, »man muss klarmachen, dass diese Verbrechen nicht ungestraft bleiben«. Das Zwischenergebnis der Schweizer Initiative ist nicht schlecht. Alle EU-Mitglieder ausser Schweden unterschrieben den Brief an den UNO-Generalsekretär. Vier afrikanische Staaten (Botswana, Elfenbeinküste, Libyen, Tunesien), fünf lateinamerikanische (Chile, Costa Rica, Panama, Paraguay, Uruguay) und sieben Länder Asiens und Ozeaniens (Australien, die Cook-Inseln, Japan, die Maldiven, Neuseeland, Samoa, Südkorea) unterzeichneten ebenfalls.
Stärkeres Gewicht haben allerdings jene Staaten, die nicht auf der Liste stehen, vor allem die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats USA, Russland und China. Es fehlen auch Kanada und Mexiko sowie die grossen Demokratien der südlichen Erdhälfte wie Brasilien, Indien und Südafrika. Schmerzhaft ist das Ausscheren Schwedens, das einen EU-Konsens verhinderte.
Würde Assad ein Gang ins Exil verbaut?
Was werfen die Kritiker der Schweizer Initiative vor? Eines der Argumente gegen die Einschaltung des Weltstrafgerichtshofs zum jetzigen Zeitpunkt ist, dass damit Syriens Präsident Baschar Al-Assad und seine Getreuen zum Kampf bis zum bitteren Ende gezwungen würden. Ein möglicher Gang ins Exil würde ihm verbaut. Die Realpolitiker in aller Welt machen geltend, dass Assad auch später noch vor Gericht gestellt werden könnte, falls er den Krieg überlebt.
Den USA, Russland und China geht es natürlich darum, ihre Privilegien als Vetomächte zu wahren. Sie wollen sich nicht von Kleinstaaten zum Handeln zwingen lassen. Die Tenöre der Dritten Welt trauen dem Weltstrafgerichtshof nicht. Bisher habe der ICC ausschliesslich afrikanische Potentaten ins Visier genommen. Der einzige rechtskräftig Verurteilte ist ein ehemaliger Warlord aus dem Kongo, Thomas Lubanga.
Misstrauen gegenüber dem Weltstrafgerichtshof
Am schlechten Ruf des ICC in den Entwicklungsländern ist sein langjähriger Chefankläger Luis Moreno Ocampo nicht unschuldig. Der von Washington geförderte Argentinier amtierte chaotisch und behauptete unter anderem, Gadafi habe seine Soldaten zu Massenvergewaltigungen angehalten und zu diesem Zweck Container voller Viagra-Pillen eingeführt. Die Beweise blieben aus, doch die Behauptungen Morenos wurden von der US-Aussenministerin Hillary Clinton übernommen. Russische Diplomaten weisen darauf hin, dass die Anklagen des ICC gegen das Gadafi-Regime zur Rechtfertigung des militärischen Eingreifens der Nato verwendet wurden.
Syrien ist aber nicht Libyen. Keine Regierung denkt derzeit an eine direkte Militärintervention. Moreno Ocampo ist nicht mehr im Amt. Seit letztem Jahr ist eine Frau, Fatou Bensoud aus dem westafrikanischen Kleinstaat Gambia, Chefanklägerin des ICC. Sie hat eine ruhigere Hand als ihr Vorgänger. Bis das Misstrauen gegenüber der noch jungen Weltgerichtsbarkeit abgebaut ist, wird aber noch einige Zeit vergehen. Der Vorstoss der Schweiz steht daher auf einem sandigen Fundament.