Die schwedische Zeitung «Dagens Nyheter» teilte am Dienstag, einen Tag nach der letzten Koran-Verbrennungsaktion in Stockholm, sachlich mit: Al-Qaida rüstet auf zum Terror gegen Schweden.
Der Artikel liest sich etwa ebenso unemotional wie man sich die Meldung über den Zeitpunkt des Sonnenauf- oder Untergangs an einem bestimmten Tag vorstellen kann.
Also, es scheint einfach dem Schicksal oder einem nicht begreifbaren Weltgesetz zu gefallen, dem Iraker Salwan Momika, 37-jährig, Asylbewerber, Mitglied der rechtsnationalen Partei der Schwedendemokraten, nach eigenen Angaben einmal Christ, dann Atheist, die Freiheit zu geben, Exemplare des Korans in Brand zu stecken oder mit Füssen zu treten, weil Meinungs- und somit Demonstrationsfreiheit in Schweden garantiert sind. Egal, was das für Folgen haben kann.
Das Dilemma Schwedens
Allerdings: Jeweils ein paar Stunden nach Momikas Happenings (er hat bereits vier ähnliche Kundgebungen durchgeführt) melden sich dann Juristinnen oder Juristen zu Wort, die darauf hinweisen, dass Schweden die Koranverbrennungsaktionen eben doch verbieten könnte, weil diese die Gefühle religiöser Minderheiten verletzten – oder verletzen könnten. Dann erlässt, das ist auch schon Routine, jeweils eine relativ untergeordnete Behörde eine Vorladung für den Iraker, aber bevor danach irgendwelche erkennbaren Folgen erkennbar werden, kündet Momika schon die nächste Aktion an.
Das Dilemma Schwedens (auch Dänemarks, da gab es ähnliche Aktionen) ist für uns Bürgerinnen und Bürger westlicher Rechtsstaaten prinzipiell nachvollziehbar, auch wenn die «Nordländer» noch etwas prinzipientreuer sind als andere Europäer. Aber in Grossbritannien, beispielsweise, wurde eine Koranverbrennung problemlos verboten mit dem Hinweis, dass die Aktion Ausdruck von Hass gegen eine religiöse Minderheit bedeute. In Schweden aber (auch in Dänemark) gilt: Wer eine Kundgebung organisieren will, muss dafür zwar die Erlaubnis der Polizei einholen – den Inhalt, die Art und Weise der geplanten Aktion muss er/sie aber nicht bekannt geben. Die Polizei muss dann lediglich die Sicherheit an Ort und Stelle beurteilen.Ddie Folgen einer Demonstration für die Sicherheit des Landes aber geht sie nichts an. Das heisst, die lokale Ebene ist völlig abgetrennt von einer höheren, jener, die allfällig die Folgen für das Land zu tragen hat.
Missbrauch der Meinungsfreiheit
Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson erklärte nach der jüngsten Koran-Schändung, das Land sei in die «schwerste sicherheitspolitische Situation seit dem Zweiten Weltkrieg» geraten. Es gäbe nun einen «ziemlich hohen Grad»von terroristischer Bedrohung. Und gab bekannt, dass er sich demnächst mit der dänischen Regierung verständigen wolle, um zu sehen, ob und wie bestehende Gesetze verändert werden könnten, um den Missbrauch der Meinungsfreiheit zu verhindern, also konkret: um Aktionen wie jener des Irakers Momika einen Riegel vorschieben zu können.
Die schwedische Regierung, auch die Gesetzgeber des Landes wollen in jedem Punkt verfassungs- und gesetzestreu vorgehen und so die Gefahr einer emotionalen Eskalation bannen. Wie steht es eigentlich mit der Gegenseite? Der Koran-Verbrenner Salwan Momika erklärt, in Schweden müsse der Koran verboten werden, weil er zu Gewalt aufrufe und daher gefährlich sei.
Nun ist ja eher fraglich, ob sich im europäischen Norden irgend jemand durch die Lektüre des Korans (sofern er oder sie sich dieser schwierigen Lektüre überhaupt annehmen will) zu einer Gewalttat motivieren liesse – aber nicht nur von Leuten wie dem Koran-Hasser Momika, sondern auch von angeblich christlich inspirierten Kreisen wird publikumswirksam immer wieder darauf hingewiesen, dass es einen direkten Zusammenhang gebe zwischen dem Lesen des Koran mit den von al-Qaida und anderen Extremistengruppen verübten Mordtaten.
Das Thema der Gewalt
Der Koran ist, ich erlaube mir diese Bemerkung als so genannter Ungläubiger (der sich im Arabisch-Studium mit koranischen Texten befassen musste), eine schwierige Lektüre. Für uns «Westler» strotzt er von Widersprüchen – Allahs Weisheit, Allahs Güte und Toleranz kontrastieren mit Texten, in denen dazu aufgerufen wird, die Ungläubigen zu verfolgen. Wie soll das in der Jetztzeit interpretiert werden? Als Aussage, die zeitbedingt verstanden werden soll (7. Jahrhundert), oder als «ewig» geltend? Da differieren die Meinungen der Islamwissenschaftler grundsätzlich von jenen des muslimischen Mainstreams, des Volksglaubens.
Dieser besagt, dass der Koran als gesamtes Werk Ewigkeitswert habe, ja, dass er in seiner Totalität auf die Erde herabgesenkt worden sei («junzil al Quran» lautet der betreffende Satz im Arabischen) und dass er schon vor der Lebenszeit des Propheten Mohammed existiert habe. Dem halten Autoren wie Mouhanad Korchide, aus dem Libanon stammend, Professor am Zentrum für Islamische Theologie in Münster, entgegen: Der Koran muss als ein Buch aus dem 7. Jahrhundert gelesen werden, nicht jedes seiner Gebote kann in die Jetztzeit übertragen werden. Und was Textstellen betrifft, in denen zu Gewalt aufgerufen wird, verglichen mit solchen, die auf die Barmherzigkeit Allahs hinweisen, errechnete Korchide ein Zahlenverhältnis von 1 zu 18. Also, Quintessenz: Der Koran ist mehrheitlich friedfertig, man muss ihn nur aus der modernen Perspektive lesen und interpretieren.
Man kann übrigens auch noch anders argumentieren, nämlich: Nur eine winzige Minderheit unter den ca 1,5 Milliarden Musliminnen und Muslimen weltweit hängt Gewaltideologien mit religiösem (oder pseudo-religiösem) Gehalt an.
Missbrauch liberaler Gesetzgebung
Also könnte man sie, die Extremisten, eigentlich problemlos als Quantité négligeable betrachten? Leider nicht – auch eine zahlenmässig unbedeutende Gruppe kann, sind ihre Mitglieder zu allem entschlossen, verheerend wirken. Beispiel 9/11: Nicht mal ein Dutzend al-Qaida-Leute waren direkt an den Attacken auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington beteiligt. Es genügte, um die Welt in einen Schockzustand zu versetzen, ja sogar, um weltpolitische Tragödien zu initiieren: Afghanistankrieg, Krieg im Irak, Entstehung des Islamischen Terrorstaats.
Eine zumindest indirekte Erfahrung mit dem Islamischen Staat hat, so wird berichtet, den in Schweden aktiven Koran-Hasser Momika geprägt. Er soll als Mitglied einer christlichen Miliz (die von der islamischen Republik Iran finanziert wurde – die mittelöstliche Welt strotzt eben im Alltag von Widersprüchen) im Irak gekämpft haben. Dass er aufgrund dieses Engagements den Islam generell als Feind betrachtet, ist verständlich – nur: Das ist seine ganz persönliche Einstellung. Er missbraucht schlicht die liberale Gesetzgebung Schwedens, bringt das Land willkürlich in Gefahr.
Dem sollte, dem könnte Schwedens Regierung einen Riegel vorschieben, ohne ihre Freiheitsprinzipien auch nur im geringsten zu opfern. Also, warum tut sie es nicht? Weil sie abhängig ist von den Schwedendemokraten. Die sind zwar nicht Teil der Regierung, aber das Minderheitskabinett von Premier Kristersson ist im Parlament bei wesentlichen Themen abhängig von den Rechtsradikalen. Das hemmt sie gewaltig in ihrer Handlungsfreiheit. Und lässt sie wie gelähmt zurück angesichts der vom Regierungschef selbst bezeichneten Gefahr, der Gefahr eines Terroranschlags.