Vor Gericht gestand Roberto offen, zwanzig Mal mit dem Messer auf «die Hexe» eingestochen zu haben. Seinem ebenfalls wegen versuchten Mordes angeklagten Vater Raúl, der hier in Tepepan, einem südlichen Vorort von Mexiko-Stadt, als «curandero» (Heiler) arbeitete, war keine direkte Tatbeteiligung nachzuweisen. Raúl lieferte aber das Tatmotiv: «Die Hexe mochte mich nicht, weil ich aztekische Reinigungen durchführe. Ich vertreibe die Leiden, die Hexen geschickt haben.»
Die Folgen des bösen Blicks, Nachtwinde, Augenleiden, Fieber, Magenschmerzen oder Diarrhö heilt Raúl mit Eiern, Zweigen vom Pfefferstrauch, mit Kalk, schwarzen Hühnern und anderen Wundermitteln – so, wie er es im neunjährigen Studium des von San Cipriano verfassten Buches der Magie gelernt hat. Doch durch den Fluch der Hexe erkrankten zunächst alle Tiere, die sich Don Raúl hielt, die Hühner, Hunde und Schweine; später erkrankten auch seine erwachsenen Familienangehörigen; schliesslich blieben sogar die Patienten aus. Roberto ist immer noch überzeugt, dass er eine Hexe umbringen wollte, denn «ein normaler Mensch hätte die vielen Wunden, die ich ihr beibrachte, nicht überlebt», erklärt er.
Vom Berater der Könige…
«Brujería», so das spanische Wort für Zauberei, gibt es in Mexiko seit uralten Zeiten. Im Aztekenreich waren nur jene, die im Zeichen des Regens geboren wurden, von den Göttern dazu berufen, Zauberei auszuüben. Das Schicksal bestimmte, wer als Zauberer geboren wurde: Zumeist Männer, die Tezcatlipoca, den Gott der Nacht und Winde, der einst das Feuer entdeckt hatte, anbeteten. Tezcatlipoca, «der Spiegel, der raucht», pflegte sich manchmal in einen Jaguar zu verwandeln, um einen göttlichen Rivalen oder Konkurrenten aus dem Himmel zu vertreiben und zeitweilig die Kontrolle über das Universum zu gewinnen. Menschen oder Götter, die sich in Tiere verwandeln konnten, nannten die Azteken «nagual», Zauberer. Solche «nagual» berieten Könige, konnten weissagen und Katastrophen verhindern.
Tatsächlich konnten sie den spanischen Hexen nicht einmal die Kerze halten, wie sich bereits bei der Eroberung zeigte: Moctezumas Zauberer hatten Hernán Cortéz nichts entgegenzusetzen. Europäische oder spanische Zauberei war viel raffinierter, und vor allem war sie organisiert. In Spanien, so berichtete die Inquisition, trafen sich die Hexen in grossen Gruppen von hundert oder mehr Mitgliedern: Perverse, Prostituierte und angebliche Wunderheiler, die schwarze Magie und sexuelle Orgien zelebrierten. Es waren zumeist Frauen, weil «Frauen ein Pfuhl des Lasters sind», wie Pater Martín de Castañeda schon vor tausend Jahren predigte. Sie wurden von der Kirche, dem Staat und der Gemeinschaft verfolgt. Die Azteken hingegen verbrannten keine Zauberer. Schliesslich verrichteten diese nur den ihnen von den Göttern aufgetragenen Job.
… zum Feind der Religion
Der grosse Boom mexikanischer Zauberei aber setzte erst mit der Ankunft des Teufels ein, der mit den christlichen Priestern kam. Die spanischen Geistlichen erklärten den Mexikanern die Teilung des Universums in gute und böse Kräfte, angeführt von Gott respektive Satan. Das war für die Azteken, in deren Religion Gut und Böse in allem innewohnte (so war Tezcatlipoca zugleich der Gott der Fruchtbarkeit und des Ansehens wie auch der Gott des Elends und der Zauberei), zwar neu, doch sie lernten schnell.
Neben den Eiern, Fröschen, Kräutern und Kröten dienten nun auch Knochen, Kleiderfetzen oder andere Reliquien christlicher Heiliger der Heilung Kranker. Der «nagual» galt nun als Feind der Religion und der Gesellschaft. Dennoch fällt es den Indianern heute noch schwer, sich vorzustellen, ein «nagual» könnte so tief sinken und mit dem christlichen Teufel paktieren. Der Synkretismus aus heidnischen Traditionen und christlicher Religion führt oft zu Verwirrung und anachronistischen Tragödien, wie Robertos Mordversuch an einer «Hexe», die «ganz sicher mit dem Teufel im Bunde» war, wie er glaubt.
Gute und schlechte Zauberer
Heute gibt es in Tepepan zwei Arten von Zauberern: satanische Hexer oder Hexen und «geborene Zauberer», wobei das natürlich keiner zugibt und alle nur «curanderos» sind. Die «geborenen Zauberer», die ihre Heilkunst von «aires» lernen, kleinen, Nahuatl sprechenden Gnomen, die irgendwo in Höhlen leben und «zu dumm sind, Spanisch zu sprechen», wie Don Pablo, ein alter Zauberer a.D., weiss, verschwinden im selben Tempo, in dem die Indianer ihre alten Traditionen aufgeben.
Don Pablo, so erzählen Nachbarn, habe mindestens zwanzig Menschen verhext, weil sie ihn auf die eine oder andere Weise störten. Er pflegte immer dienstags und freitags zu arbeiten, an Mexikos Hexentagen. Indem er kleine Stoffpuppen mit Nadeln traktierte, beschwor er Krankheiten auf seine Feinde herab. Danach drehte er sich dreimal um die Achse, rollte sich auf dem Boden und verwandelte sich in einen Hund, einen Truthahn, einen Esel oder ein Schwein. Ein «curandero», der mit der Heilung einer von Don Pablo verhexten Kranken beauftragt war, vertrieb einmal eine Katze vom Dach der Kranken. «Das war Don Pablo», versichert er.
Die Satanshexer von Tepepan
Doch heute überwiegen die Satanshexer auch in Tepepan. Sie benutzen schwarze, rote, grüne oder weisse Magie – alles üble Teufelskünste. «Hexer, die Magie in Büchern studieren, müssen ihre Seelen dem Teufel verschreiben», behaupten ängstliche Nachbarn von solchen Zauberern. Dann genügt eine Photographie, ein Kleidungsstück oder irgendein anderer Gegenstand aus dem Besitz des Opfers, um es zu verhexen.
Meist arbeiten die Satanszauberer für Kunden. Ein Verliebter, den die Angebetete abweist, holt sich Hilfe beim Hexer. Ein karrierebewusster Angestellter, der bei einer Beförderung übergangen wird, kann sich vom Hexer helfen lassen – zumindest kann er Krankheit und Unglück auf seinen Chef herab beschwören lassen. Kranke, Einsame, Unterprivilegierte, jeder, der ein Problem hat, kann beim Zauberer gegen Bezahlung Hilfe einholen.
Limpias gegen «schlechte Winde»
Auch Maria Celena, eine 50-jährige Hausfrau, bewältigt ihren eintönigen Alltag mit überirdischer Hilfe. Seit vier Jahren unterzieht sie sich zweimal wöchentlich einer «limpia», einer Reinigung, im Tempel der «Hermanitos», einer Sekte von Spiritualisten, die alleine in der Hauptstadt über tausend solcher Stätten betreibt. In einem russgeschwärzten Kämmerlein spuckt und bläst das «Brüderchen» oder «Schwesterchen» über ihren Kopf oder die Schultern. Unter ständigem Stöhnen wedelt der Volksheiler mit Kräuterzweigen über den Körper der Kranken, streicht ein Ei oder gar ein schwarzes Huhn über ihren Leib, während sich der Rauch einer offenen Feuerstelle mit dem süsslichen Duft geheiligten Balsams, dem säuerlichen Schweissgeruch der Menge der Wartenden und dem Smog des nahen, sechsspurigen Boulevard del Centro vermischt.
Zwar ist Maria Celena längst von ihrer Beinlähmung genesen, die sie einst hierher brachte. Doch sie käme nie auf die Idee, diese Besuche einzustellen. «Mein Mann und seine Geliebte wollten mich loswerden», diagnostiziert sie ihr früheres Leiden. Die beiden hätten ihr «schlechte Winde» geschickt. Darunter verstehen Mexikaner psychologisch verursachte Krankheiten. Lange vor Sigmund Freud und der Psychoanalyse kannten die Azteken die Psychosomatik, wussten, dass viele physische Leiden durch Neid, Wut, Angst oder Schrecken hervorgerufen werden. Zu den häufigsten Krankheiten in Mexiko zählen Gallenerkrankungen, Hyperfunktionen der Galle, hervorgerufen durch Ärger oder Wut.
Zwei Gründe bewegen Maria Celena, den Tempel auch weiterhin regelmässig aufzusuchen. Erstens nimmt sie jedes Mal nach der Reinigung einen Plastikbecher geheiligten Weihwassers mit nach Hause. «Damit schütze ich auch meinen Sohn, der allein in New York lebt», erklärt sie. Zweitens fühlt sie sich der Chefin des Tempels verpflichtet. Maria Celena weist zwar den Verdacht zurück, die Tempelheilerin sei wohl eine Hexe, will sich dazu aber lieber nicht äussern, denn «ich will mich nicht verdammen».
Magische Kerzen für alle Fälle
Der Glaube an die «limpias» ist allgegenwärtig in Mexiko – nicht nur bei den Indianern oder einfachen Bauern. Zu «limpias» gehen auch moderne Mexikaner, Unternehmer, Büroangestellte, Handwerker und elegante Hausherrinnen aus dem Pedregal oder aus Polanco, den Nobelvierteln von Mexiko-Stadt. Die «limpias» bieten eine Form der psychologischen Sicherheit für die Bevölkerung, um die wirtschaftliche und persönliche Unsicherheit, die durch Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenabhängigkeit hervorgerufen werden, zu ertragen.
Gegen die Fähigkeiten der brujas und brujos kämpft die Kirche vergebens an. Aufgebracht wettert Pater Butera über die «Ignoranz» seiner Landsleute und über das «Versagen» der katholischen Kirche. «Seit fünfhundert Jahren sind wir dabei, das Land zu christianisieren – und nichts, überhaupt nichts haben wir erreicht.»
Pater Butera hat noch viel Arbeit. Wenn sich Margu vom «Mercado Sonora», wo Heilkräuter, wohlriechende Harze, mysteriöse Pulver und allerlei andere absonderliche Wundermittel angeboten werden, auf den Heimweg begibt, ist sie mit vier magischen Kerzen beladen. Die gelbe soll gegen die Schulmüdigkeit ihres Sohnes brennen, die hellblaue soll Glück ins Haus bringen, die weisse die Gesundheit erhalten und die grüne die Geldnot lindern, denn ihr Mann ist seit drei Jahren arbeitslos.
«So hell wie heute hat mein Haus noch nie geleuchtet», strahlt die Katholikin. Allfällige Probleme mit der Kirche vermeidet sie, indem sie vorläufig einfach nicht zur Beichte geht. «Denn da müsste ich dem Padre ja von den 'limpias' erzählen.»