Ich treffe Hans am Bahnhof SBB in Basel. Die S3 bringt uns in wenigen Minuten nach Dornach-Arlesheim. Auf dem Vorplatz wartet der gelbe 67er nach Seewen. An diesem Herbstmorgen scheint der Bus vor allem von mit Rucksäcken und Wanderstöcken ausgerüsteten Pensionisten frequentiert zu werden, welche das milde Herbstwetter auf den Gempen lockt.
Wir gehören, ob wir es wollen oder nicht, auch dazu, wenn auch ohne Wanderstöcke, aber ebenso pensioniert. Man begrüsst uns beim Einsteigen wie alte Bekannte. Ich bin froh, dass mir meine Angst vor Gruppenwanderungen nicht ins Gesicht geschrieben steht. In Gempen Dorf leert sich der Bus. Die Gruppe nimmt den Weg zur Schartenflue, wo der Aussichtsturm steht, vom dem der Blick ins Birs- und Rheintal geht, nach Basel und weit übers Land bis zu den Vogesen und zum Schwarzwald.
Hinter der Jugendherberge die erste Zigarette
Hans und ich schlagen die entgegengesetzte Richtung ein, wandern südwärts, zuerst auf einer geteerten Quartierstrasse an Einfamilienhäusern vorbei, welche so gar nicht zu meinen Jugenderinnerungen an das verschlafene Bauerndorf auf dem Gempenplateau passen wollen. Später führt uns der Weg durch einen lichten Wald, in den die flachen Strahlen der Herbstsonne einfallen.
Den neuen Wohnquartieren zum Trotz: Die Erinnerungen an alte Zeiten sind präsent, heute ganz besonders. Mit Hans ging ich während acht Jahren zur Schule. Wir sassen in der gleichen Bank, schrieben voneinander ab oder flüsterten uns, wenn ein Lehrer allzu penetrant nach einer Antwort verlangte, das rettende Wort zu, bauten zusammen an unseren Modelleisenbahnanlagen und unternahmen in den Ferien Velotouren durch die Schweiz. In Luzern kauften wir uns ein Päckli Marlboro und rauchten dann am Rootsee hinter der Jugendherberge unsere erste Zigarette.
Nach der Matur trennten sich unsere Wege: Hans ging an die ETH und studierte Architektur, ich an die Freie Universität in Berlin zum Physikstudium. Erst viel später, als wir während drei Tagen ob dem Genfersee unsere 50-jährige Matur feierten, wuchs die alte Klasse – oder das, was davon übrig geblieben war – wieder zusammen. Seither treffen wir uns öfter, erneuern alte Gemeinsamkeiten, welche man heute Seilschaften nennt, und entdecken neue und überraschende Seiten bei alten Kollegen.
Wenn wir zusammen tafeln und es laut zugeht wie eh und je, kommt es mir manchmal vor, als ob zwischen dem Basler Realgymnasium, als wir unbeschwert, aber oft auch unsicher und daher laut waren, und dem Altgewordensein nur eine kurze Episode gelegen hätte, während der Beruf und Familie im Vordergrund gestanden und wir, kurz gesagt, ein bisschen Leben gespielt haben. Aber dann zwickt es mich plötzlich im Rücken und ich weiss, dass es mehr gewesen ist als das.
Einstiges Land der Schmuggler
An einer Wegkreuzung östlich von Hochwald steht ein Kruzifix, davor eine Bank. Wir sind im katholischen Schwarzbubenland, jenem Teil des zerstückelten Kantons Solothurn, der sich weitab von der Kantonshauptstadt gegen das protestantische Basel behauptet hat. Nur ein paar Gemeinden des ehemaligen Bistums Basel im Birseck – Arlesheim, Reinach und Münchenstein –, die heute zum Kanton Baselland gehören, haben den Schwarzbuben die Stange gehalten. Allerdings nur konfessionell, denn geistig fühlten sich die Landschäftler, wie ich von meinen dort wohnenden Schwiegereltern gelernt habe, den Schwarzbuben immer weit überlegen.
Es ist nicht ganz klar, wieso man die Bewohner dieser Gegend seit dem frühen 19. Jahrhundert so nennt. Die einen Quellen meinen, es sei ihre schwarze Kleidung oder politisch konservative Gesinnung, welche ihnen den Namen Schwarzbuben eingebrockt hat, andere sagen, der Name komme von „schwärzen“, was früher gleichbedeutend mit „schmuggeln“ war. Tatsächlich, die verwinkelten Grenzen und die Einsamkeit der Jurahöhen scheinen für diese Tätigkeit geradezu prädestiniert.
Doch jetzt sind auf den einstigen Schmugglerpfaden nur Jogger und Hündeler unterwegs. Wir lassen die Bürenflue, welche steil ins Oristal abfällt, links liegen. Unser Weg führt heute nicht weit, nur bis Seewen. Wo blieb da wohl der See, welcher dem Dorf seinen Namen gab? – Tatsächlich, nicht nur in Kalifornien hat der Mensch einst Seen zum Verschwinden gebracht, sondern auch im Jura. Der Seewener See, in prähistorischer Zeit durch einen Bergsturz entstanden, wurde 1588 ins Pelzmühlital entleert und das Land später melioriert. Nur der Name des Dorfes und der Seebach erinnern noch an ihn.
Sammlerleidenschaft eines heute 99-Jährigen
Für einmal geht es nicht um einen verschwundenen See, sondern um das Museum für Musikautomaten. Beim Jegeracker verlassen wir den gelb markierten Wanderweg und folgen den speziellen Wegweisern. Das Museum befindet sich in einem modernen Bau auf dem Bollhübel oberhalb von Seewen.
Wie wohl die Schwarzbuben zu diesem einzigartigen Museum gekommen sind? – Der Museumsführer weiss Antwort: Heinrich Weiss-Stauffacher, der heute 99 Jahre alt ist, hat zeitlebens leidenschaftlich alles gesammelt, was an Automaten zur Produktion von Musik erfunden worden ist, vieles in der Schweiz, wie die berühmten Musikdosen von Ste-Croix, anderes im nahen Schwarzwald, zum Beispiel die Orchestrions. Das sind Automaten, welche durch ein gelochtes Papierband gesteuert werden und Orgeln, Klaviere und ganze Orchester imitierten können.
Seit 1979 war diese einzigartige Sammlung öffentlich zugänglich. Im Jahre 1990 ging sie als Schenkung an die Eidgenossenschaft, welche sie dem Landesmuseum angliederte. Der im Jahre 2000 eingeweihte moderne Erweiterungsbau erlaubte nun auch Sammlungsstücke zu präsentieren, welche zuvor in einem Lager auf bessere Zeiten gewartet hatten. Eines der berühmtesten Objekte ist die um 1913 für den Luxusdampfer HMHS Britannic, einem Schwesterschiff der Titanic, von M. Welte & Söhne in Freiburg i. B. gebaute Philharmonieorgel. Sie kam allerdings wegen des ausbrechenden Ersten Weltkrieges nie auf das Schiff, weil dieses zum Truppentransporter umgebaut worden war.
Ich bin nicht der Fachmann, um den vielen Objekten, welche in diesem sehr speziellen Museum im Schwarzbubenland versammelt sind, den gerechten Tribut zu zollen. Wer sich dafür interessiert, wird im Internet fündig oder – weit besser – besucht das Museum am besten selber. Ich beschränke mich daher – der Rubrik „Unterwegs“ gerecht werdend – auf wenige Eindrücke unserer Wanderschaft durch das Museum.
Geruch aus der Schulzeit
Tatsächlich werden wir auf dem Bollhübel auf eine besondere Art liebevoll empfangen. Über die Wiesen weht uns jener wundersame Geruch entgegen, den ich aus meiner Schulzeit kenne, wenn auf dem Heimweg die Küchenfenster offen standen und drinnen die tüchtigen Schweizer Hausfrauen – ob es damals auch schon Hausmänner gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis – das Mittagessen für ihre Lieben vorbereiteten.
Allerdings wirken, abgesehen vom besagten Duft, Museum und Restaurant noch verlassen, als wir anmarschieren. Pünktlich um elf öffnet sich schliesslich die gläserne Pforte. Man heisst uns herzlich willkommen, informiert über die bevorstehenden Führungen und empfiehlt den Wanderern, als ob dies noch nötig gewesen wäre, die gute Küche im museumseigenen Restaurant.
Doch vor dem Essen die „Arbeit“, so hat es der Zwinglianer gelernt, und so will er es auch im katholischen Kanton Solothurn halten. Ein erster Rundgang ist überwältigend und verwirrend zugleich. Hier sind sie alle, manche winzig, andere monströs, die melodiöse Genüsse versprechenden Automaten. Sie stehen stumm und warten auf den guten Geist, der sie zum Tönen bringt. Dieser wird allerdings erst um 12.20 Uhr kommen, also gehen wir schnell noch zum Mittagessen. Anschliessend trifft man sich für die Führung auf der weissen Bank vor der immensen Orgel in der Haupthalle.
Konservierte Träume
Sieben Personen sind es heute, darunter je ein Paar aus Holland und Deutschland, welche von einer temperamentvollen Dame, an ihrem Hochdeutsch als Baselstädterin erkennbar, während einer Stunde durch das Museum geführt werden. Flink lässt sie für uns Musikdosen, Orgeln und automatische Klaviere erklingen, hantiert mit verborgenen Hebeln und Knöpfen, wuchtet mit Hilfe einer Kurbel schwere Gewichte in die Höhe oder zieht Spannfedern auf, welche als Energiespeicher für den Betrieb der Automaten dienen. Virtuos schlägt sie an einem Klavier einen Akkord an, um dann die Fortsetzung der Polonaise von Chopin einem geheimnisvollen Mechanismus zu überlassen, der durch ein Lochband gesteuert wird. Es sind gleichsam konservierte Träume aus vergangenen Zeiten, als es weder Radio noch Plattenspieler gab, welche uns entgegentönen, Träume sowohl aus vornehmen Bürgerhäusern wie aus den Stuben der einfachen Gasthäuser, wo die Jugend vom Land tanzte.
Als Hans und ich drei Stunden später auf einem steilen Waldweg hinunter nach Büren gehen, begleiten uns die Klänge der Orgelpfeifen, der mechanischen Geigen und Flöten und der schwingenden Lamellen der Musikdosen. In Büren nehmen wir den Bus nach Liestal. Wäre es ein gelbes Postauto aus meiner Jugendzeit gewesen, hätte ich den Chauffeur gebeten, den Dreiklang erklingen zu lassen, mit dem meine Generation aufgewachsen ist und der zur Musik der Automaten so wunderbar passt. Aber Busse im Unterland haben leider nur gewöhnliche Hupen.
Fotos: Dieter Imboden