Das Verbot der Gesichtsverhüllung richtet sich an alle, die in der Schweiz leben oder sich in ihr aufhalten. Frauen und Männer. Das sind Millionen und nicht lediglich ein paar an ihrer Garderobe erkennbare Araberinnen. Mit einem Ja begrüssen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den obrigkeitlichen Eingriff in Alltägliches und für den Lauf der Welt Nebensächliches: ob es angängig ist, die Mütze auf die Nase zu schieben, zu einer schwarzen Corona-Maske eine Sonnenbrille zu tragen, bei hochgezogenem Halstuch das Stirnband nach unten zu ziehen oder beim Sonnenbaden ein Taschentuch aufs Gesicht zu legen.
Erlaubte Provokationen
Das Verbot gilt in der Öffentlichkeit, erstens «im öffentlichen Raum», zweitens «an Orten, die öffentlich zugänglich sind», drittens an Orten, «an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden».
Sind die erste und zweite Definition sofort hinlänglich klar, ist die dritte entweder überflüssig, weil sie sich mit der zweiten deckt, oder lässt rätseln, was dahinter steckt. «Dienstleistung» jedenfalls ist ein schillernder Begriff und nur mit Beispielen, doch nicht abschliessend konkretisierbar.
«Grundsätzlich» in der obigen dritten Definition heisst «in der Regel». Das ruft nach einem vierten «öffentlichen Ort», der von der Regel abweicht. Darüber schweigt der Verfassungsartikel und ermuntert nochmals zum Rätselraten.
Ausdrücklich keine Verhüllungsverbots-Zonen sind «Sakralstätten», Hierzulande dürfen Gotteshäuser aller Religionen gesichtsverhüllt betreten werden, Orte, an denen eine Burka, ausser in Moscheen, erheblich und legalisiert provozieren dürfte.
Inmitten der Freiheiten eine Unfreiheit
Bei Annahme zählt der Verfassungsartikel 10a pikanterweise zu den Grundrechten wie etwa der Schutz der Menschenwürde und der Privatsphäre, die Rechtsgleichheit, die persönliche Freiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Versammlungsfreiheit. Inmitten der Freiheiten würde eine Unfreiheit verankert.
Die Grundrechte gewähren uns in positiver Formulierung eine lange Reihe von Rechten und enthalten lediglich drei absolute Verbote. Das Verbot der Todesstrafe, der Folter und der Zensur. Das Verhüllungsverbot käme hinzu und geriete in Widerspruch mit zahlreichen Grundrechten.
Absurditäten noch und noch
Die Initiantinnen und Initianten sind sich der Schwierigkeit ihrer Verbieterei bewusst und verlangen deshalb in der Ausführungsgesetzgebung Ausnahmen. Befreit vom Verhüllungsverbot sind jene, die dafür «Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums» vorbringen können.
Den Interpretationsmöglichkeiten öffnet sich ein weites Feld mit Fallgruben. Bei welcher Verhüllungsvariante beginnt der polizeiliche Verdacht, beginnt unser aller Pflicht, gesetzliche Entschuldigungsgründe vorzubringen?
Ist das windschützend versteckte Gesicht auf dem Motorrad im Winter eine klimatisch und im Sommer eine gesundheitlich zulässige Ausnahme? Dürfen Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne eine Maske aufsetzen, weil das Theater – auch das experimentelle, jede Tradition sprengende – verhüllungsrechtlich unter «einheimisches Brauchtum» fällt? Wo findet sich die gesetzliche Rechtfertigung für Frauen, die bei einer Beerdigung einen Hut mit Trauerschleier tragen? Die Liste der unbedachten Absurditäten reicht bis zum satirischen Programm.
Die Welt auf den Kopf gestellt
Es kommt noch schlimmer. Was heute an Bekleidung problemlos zum Alltag gehört, wird mit dem Ja zum Verfassungsartikel zur erläuterungspflichtigen Ausnahme. Feuerwehrleute mit Atemschutzmasken? Menschen im Osterhasen-Kostüm, die den Kindern Eier schenken? Schutzmasken im Operationssaal? Die Samichläuse? Samt und sonders Ausnahmen unter dem gestrengen Auge der Justiz.
Die Initiative verwandelt die Normalität in die Abnormalität. Ausgerechnet jenen Kreisen, denen die Burka des Satans ist, wird sie zur Herzensangelegenheit mit dem Ergebnis einer Gesetzgebung, die Millionen belästigt, die nicht im Traum daran denken, je ein schwarzes Gewand islamischer Herkunft zu tragen.
Die aber vielleicht ohne Arg und ohne jedes religiöse Motiv eine Bekleidung wählen, die als gesichtsverhüllend empfunden werden könnte. Das genügt für den strafrechtlich relevanten Verdacht und verlangt, den Kopf mit einer der vier gesetzlichen Ausnahmebestimmung aus der Schlinge zu ziehen.
Wann immer die von eidgenössischen Räten und hernach von 26 Kantonsparlamenten zu verabschiedenden Ausführungsgesetze in Kraft treten, werden die Initianten eines nicht verhindern können, nämlich Frauen, die sich nach islamischer und religiös grundierter Sitte und mit einem Bekenntnissignal kleiden. Mit Dupatta, Abaya, Schaila, Hidschab, Al-Amira, Chimar, Tschador, Bushiya oder Burkini. All diese Gewandungen lassen das Gesicht unverhüllt.
Verhüllung doch erlaubt?
Das Verhüllungsverbot ist erweitert um das Verbot, jemanden «aufgrund ihres Geschlechts» zur Gesichtsverhüllung zu zwingen. Die Initiative meint mit dem Zwangsverbot wahrscheinlich Männer islamischen Glaubens, die Frauen die Verschleierung befehlen. Nur spielt es keine Rolle, was ein Initiativkomitee meint und denkt oder weder meint noch denkt, sondern was es schwarz auf weiss schreibt.
Nach dem Wortlaut ist der Zwang zur Gesichtsverhüllung erlaubt, sofern er nicht wegen des Geschlechts erfolgt. Der Schlupflöcher bleiben viele. Die Frage stellt sich, ob das Initiativkomitee das Verhüllungsverbot gemäss Absatz 1 des vorgeschlagenen Verfassungsartikels mit dessen Absatz 2 gleich aushebelt. So ist es.
Schwindeln macht die Burka möglich
Klammern wir die Hoffnung auf den gesunden Menschenverstand aus – was sich bei Verfassungsänderungen und überhaupt bei der Gesetzgebung dringend empfiehlt –, kann sich jede irgendwie gesichtsverhüllte Person mit der Erklärung rechtfertigen, sie sei dazu gezwungen worden, allerdings unabhängig von ihrem Geschlecht.
Wer will den Wahrheitsbeweis führen und widerlegen können, die zur Verhüllung genötigte Person müsse bei Zwangsverweigerung Höllenqualen erleiden? Mit anderen Worten: Freiwillig verhüllt in der Öffentlichkeit geht nicht, gezwungenermassen schon.
Drei unbestreitbare Probleme
Losgelöst von der Frage, welche Probleme die Burkaträgerinnen schaffen – wirklich oder vermeintlich, nennenswert oder vernachlässigbar –, schafft der Verfassungsartikel tatsächlich Probleme. Einerseits sprachlicher Art und anderseits mit der Unverhältnismässigkeit, eine Kleinstgruppe zu meinen und die ganze Bevölkerung zu schlagen.
Zum Dritten schmuggelt die Initiative unter der Burka sehr problematisch noch das Vermummungs-Verbot in die Verfassung, obwohl die Vermummung nach Geschichte, Bedeutung und Zweck völlig anders gelagert ist.
Es wäre in jeder Beziehung einfacher und ehrlicher gewesen, wenn es denn sein musste, die Verfassung zu ergänzen mit einem einzigen Satz: «Das Tragen einer Burka ist in der Öffentlichkeit verboten». Dann freilich wäre das Initiativkomitee unter Diskriminierungs-Verdacht geraten. Wir haben es mit einer verhüllten und vermummten Vorlage zu tun.