Der frühere italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte, Chef der Protestbewegung «Cinque Stelle», ist dabei, die Regierung von Mario Draghi zu stürzen. Sollte dies gelingen, sind Neuwahlen nicht ausgeschlossen. Diese könnten die Cinque Stelle krachend verlieren.
(Wird laufend aktualisiert)
Was tun Politiker, wenn ihnen die Felle davonschwimmen? Was tut eine populistische Partei, die vor dem Zusammenbruch steht? Man richtet einen riesigen, schlagzeilenträchtigen Klamauk an und hofft dadurch, Profil zu gewinnen. Man droht, man erpresst, man stellt Ultimaten. Das taten jetzt die italienischen «Fünf Sterne».
Damit stürzen sie nicht nur sich selbst ins Chaos, sondern vor allem auch – was viel schlimmer ist – ganz Italien.
Vertrauen für Draghi
Am Donnerstagnachmittag fand im Senat eine Vertrauensabstimmung über die Regierung Draghi statt. Die Senatoren sprachen sich mit 172 zu 39 Stimmen für das von der Regierung Draghi vorgelegte Hilfspaket aus. Die Cinque Stelle, die Teil der Regierungskoalition von Mario Draghi sind, nahmen aus Protest nicht an der Abstimmung teil.
Seit bald anderthalb Jahren regiert in Italien eine Art grosse Koalition mit Ministerpräsident Mario Draghi an der Spitze. Der Allianz gehören alle grossen Parteien an – ausser die postfaschistischen «Fratelli d’Italia».
Draghi geht, vorläufig
Draghi hatte durchblicken lassen, dass er nur dann weiterregieren werde, wenn alle Koalitionsparteien am gleichen Strick ziehen und die Regierung unterstützen. Da die Cinque Stelle die Regierung offensichtlich nicht mehr unterstützen, hat sich Draghi entschieden zu gehen.
Nach der Abstimmung war er in den Römer Quirinalpalst gefahren und hatte dort mit Staatspräsident Sergio Mattarella konferiert.
Am Abend rief er seine Minister zusammen und erklärte: «Heute Abend trete ich zurück. Die heutigen Abstimmungen im Parlament sind aus politischer Sicht von grosser Bedeutung. Die Mehrheit der nationalen Einheit, die diese Regierung seit ihrer Gründung unterstützt hat, gibt es nicht mehr.»
Rücktritt abgelehnt, vorläufig
Kurz darauf wurde bekannt, dass Staatspräsident Mattarella den Rücktritt ablehnt und Draghi ersucht, vorläufig weiterzumachenn. Dies vor allem wegen internationaler Verpflichtungen, die anstehen. Am 18. und 19. Juli findet in Algerien ein Gipfeltreffen statt, an dem es um neue Gasabkommen geht. Ein abtretender Ministerpräsident dürfte dann wichtige Abkommen nicht unterzeichnen.
Enrico Letta, der Chef der Sozialdemokraten, kommentiert: «Ich glaube, dass die Kontinuität der Regierung zu diesem Zeitpunkt sehr wichtig wäre». Matteo Renzi, der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident, der eine eigene Splitterpartei («Italia viva») gründete, sagte. «Es gibt keinen Grund für einen Rücktritt von Draghi.»
Demgegenüber fordert Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen «Fratelli d'Italia», sofortige Neuwahlen.
Vorgeschobene Probleme
Selbst alte Polit-Auguren können nicht klar erkennen, worüber überhaupt gestritten wird. Die «Fünf Sterne» hatten neun sozialpolitische Forderungen aufgestellt. Unter anderem geht es um die Verteilung der EU-Hilfsgelder, um die Unterstützung von Familien und Betrieben, um einen Minimallohn, um die Abfallbeseitigung. Themen, bei denen eigentlich wenig Uneinigkeit besteht. Unzufrieden sind die Sterne allerdings auch über die klare pro-westliche Ukraine-Politik der Regierung Draghi.
Doch diese Themen sind alle vorgeschoben. Bei der jüngsten Regierungskrise ging es kaum um Inhalte – es ging einzig um den Egoismus gewisser Politiker. Die Cinque Stelle beweisen mit ihrer illoyalen Haltung, dass ihnen das Volk, das Draghi unterstützt, ziemlich egal ist. Eigentlich findet hier ein Überlebenskampf der schwer diskreditierten Fünf Sterne statt.
Mehr erreicht als Berlusconi in zwanzig Jahren
Endlich hatte Italien mit Mario Draghi wieder einen national und international respektierten Ministerpräsidenten. Dem parteilosen Draghi, einem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, war es gelungen, Vertrauen in die Regierung zurückzugewinnen, etwas Ruhe in den meist chaotischen italienischen Politbetrieb zu bringen. Vor allem war es ihm gelungen, dass die EU über 200 Milliarden Euro für den Wiederaufbau des Landes locker macht. In Meinungsumfragen ist Draghi (nach Staatspräsident Mattarella) der mit Abstand beliebteste Politiker im Land. Er hat in anderthalb Jahren mehr erreicht als Berlusconi in zwanzig Jahren.
Nun, nach dem Rücktritt Draghis, ist die Gefahr gross, dass das Land, das sich knapp über Wasser hält, wieder in die unproduktiven, konfusen, lauten, wirren Zeiten zurückgeworfen wird, in denen jeder Politiker sein eigenes Süppchen kocht – und das Wohl des Landes ist ihnen egal.
Die Börse reagierte unfreundlich auf die Haltung der Cinque Stelle. Der Spread stieg teilweise auf 225 Punkte und pendelte sich bei über 200 Punkten ein. Die Mailänder Börse schloss bei minus 3,44 Prozent.
Neuwahlen?
Die jetzige Legislatur dauert bis zum kommenden Mai. Spätestens dann müssen Neuwahlen stattfinden. Da die Regierung Draghi jetzt Vergangenheit ist, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ernennt Staatspräsident Mattarella einen Übergangsministerpräsidenten, der dann, bis zu den Neuwahlen im kommenden Mai, regieren soll. Schon spricht man von Giulio Amato, einem früheren parteilosen Ministerpräsidenten. Oder, zweite Möglichkeit: Es gibt noch in diesem Sommer Neuwahlen. «Sommer-Wahlen», das wäre für Italien eine Neuheit.
Dann können die Cinque Stelle einpacken. Man wird sie dann fragen, weshalb sie so dumm waren, Wahlen zu provozieren. Denn die Bewegung des früheren Komikers Beppe Grillo, dessen Markenzeichen seine Flegelhaftigkeit und seine wirre Frisur sind, droht bei einem Urnengang zu implodieren.
Ein wilder Haufen
Bei den Wahlen im Jahr 2018 hatte alles so schön begonnen. Die Fünf-Sterne-Bewegung erreichte mit 32,68 Prozent der Stimmen das mit Abstand beste Ergebnis. Doch immer mehr zeigte sich, dass die Partei ein wilder Haufen ist, zusammengesetzt aus Linken und Rechten, aus Umweltschützern und ewigen Querulanten und Protestlern, aus Populisten jeder Couleur. Und vor allem: Die meisten Parlamentarier der Partei hatten null politische Erfahrung. Eine gewisse Putin-Verehrung war unverkennbar. Im Blog von Beppe Grillo wurden regelmässig Artikel der russischen Propaganda-Agentur «Sputnik» übernommen.
Langsam ging es bergab. Die letzten Monate waren brutal für die Partei. Innere Streitigkeiten brachen offen aus. Die jüngsten Gemeindewahlen waren ein Desaster. Eine politische Linie war nicht mehr zu erkennen.
Ein Parteiführer ist Conte nicht
Geführt wird die Partei seit knapp einem Jahr vom früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Ihm, dem Zauderer, war es nicht gelungen, einen Plan zur Verteilung der EU-Gelder aufzustellen. Deshalb wurde er vom früheren Regierungschef Matteo Renzi gestürzt. Conte mag ein guter Anwalt und Professor sein, ein Parteiführer ist er nicht. Er laviert, ändert seine Meinung, knickt immer wieder ein und macht sich oft nur lächerlich.
Schliesslich war es Aussenminister Luigi Di Maio, der «seiner» Fünf-Sterne-Bewegung fast den Todesstoss versetzte. Di Maio, früher in Rom als «der dümmste Aussenminister» bezeichnet, wuchs über sich hinaus, zeigte Profil. Im Ukraine-Krieg nahm er eine harte, unnachgiebige, weitherum respektierte Anti-Putin-Haltung ein. Sein Austritt aus der Partei führte dazu, dass zahlreiche Parlamentarier und Minister die Fünf Sterne verliessen. Di Maio liess durchblicken, dass er nach den Sommerferien eine eigene Bewegung gründen könnte. Di Maio sagte am Donnerstag: «Die Cinque-Stelle-Führer hatten seit Monaten die Eröffnung einer Krise geplant, um der Draghi-Regierung ein Ende zu setzen.»
Weg frei für die Postfaschisten?
Zur Zeit dümpeln die Fünf Sterne zwischen 11,5 und 12,5 Prozent dahin – ein Desaster für die vor kurzem noch stärkste Partei. Deshalb wollten sie sich jetzt – sozusagen in einem Akt der Verzweiflung – wieder in die Schlagzeilen katapultieren. «Was die Cinque Stelle jetzt tun, ist purer Selbstmord», kommentiert ein alter Römer Polit-Beobacher.
Sollte es bald einmal Neuwahlen geben, werden laut Meinungsumfragen die aus den Postfaschisten hervorgegangenen «Fratelli d’Italia» am meisten Stimmen erhalten. Vermutlich wird dann die energische, teils sehr laute Giorgia Meloni Ministerpräsidentin werden, und zwar in einer Koalition mit der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini und der Berlusconi-Partei «Forza Italia».
Stärkste Oppositionskraft würde der sozialdemokratische «Partito Democratico» (PD) sein, im Moment eine der vernünftigsten Parteien Italiens. Italien ist eines der wenigen europäischen Länder, in denen die Sozialdemokraten stärker werden.
Und die Cinque Stelle? Ein Römer Journalist witzelt: «Vielleicht wird das James-Webb-Teleskop im fernen Weltall doch noch einige versprengte Fünf-Sterne-Anhänger ausfindig machen.»