Der Wissens- und Informationsgesellschaft droht die Bildung abhandenzukommen. *1) Sie hat es heute schwer. Gefragt sind Kompetenzen, beruflich kalkulierbar, ökonomisch einsetzbar, finanziell verwertbar. Das kalte Kalkül der Nützlichkeit dominiert und diktiert. Die Idee der betriebswirtschaftlichen Effizienz hat die Idee der Bildung verdrängt. Relevant ist sie als ökonomischer Faktor und „bilanzierbare Kennzahl des Humankapitals“ *2) – unter den Parametern des maximierten Gewinns. So scheint es.
Einzige Frage: Was nützt’s?
Der Grieche Stobaios überliefert eine kleine Anekdote: Ein Schüler studiert beim grossen Mathematiker Euklid Geometrie. Er lernt den ersten Lehrsatz und fragt dann seinen Lehrer: „Welchen Gewinn habe ich nun davon, wenn ich all das lerne und all das weiss?“ Da ruft Euklid seinen Diener und sagt: „Gib ihm drei Drachmen! Er muss Gewinn schlagen aus dem, was er lernt.“
Bereits die Antike wusste: Wissen hat auch einen Selbstwert; es referiert auf Erkennen, Verstehen, Begreifen. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens selbst, sondern der Situation, in die man gerät. 2300 Jahre sind seit Euklid vergangen. Euklids Schüler lebt weiter, und sein Grundsatz ist aktueller denn je: Wissen wird am Geldwert gemessen und am Gedanken des Pragmatismus orientiert mit der utilitaristischen Frage: Was nützt mir Bildung?
Im Sog des New Public Management
Die Diktatur des Utilitarismus ist alt und die Schülerfrage aus der Antike eine urmenschliche. Das ist aber nicht das Problem. Es liegt anderswo. Sorge bereitet eine Bildungspolitik, die im Sog des New Public Managements (NPM) Schulen wie Fertigungs- und Dienstleistungsbetriebe organisieren will.
Der Begriff NPM setzt zwar langsam Patina an, doch das Mainstream-Rezept wirkt weiterhin. Und äusserst erfolgreich. Eine ökonomische Perspektive von Unterricht betrachtet das Pädagogische und das Betriebswirtschaftliche als prinzipiell vereinbar. Die Kriterien sind die gleichen: Organisationen sind dann effizient, wenn sie die Prozesse trivialisieren und die Abläufe standardisieren können. Das Ergebnis wird berechenbar und messbar. Doch Lehrerhandeln ist nicht technologisierbar und Schule keine Käserei mit klar definierbarem Output.
Notwendige Widersprüche
Die heutige Bildungspolitik richtet ihr Augenmerk zunehmend auf die Aussenwirkung der Schule, auf sogenannte Oberflächenphänomene wie Strukturfragen oder problembasierte Lernprogramme, auf Kontrolle und Evaluation, auf das Messen von Schülerleistungen und das Sammeln von Output-Daten.
Doch das Input-Output-Denken negiert die vielen konstitutiven Widersprüchlichkeiten von pädagogischem Handeln und schulischem Lernen. Es verkennt, wie komplex und dynamisch das soziale Gebilde einer Schulklasse ist und worin die menschliche Grundlage für ein freies Entfalten gesellschaftlich relevanten Wissens und Könnens liegt.
Erziehung und Unterricht sind interaktive Prozesse, sind Beziehungsgeschehen zwischen Individuen und damit der Logik zweckrationalen Handelns in Teilen entzogen. Entscheidend ist das flexible Reagieren auf eine Klasse, die zudem von Jahr zu Jahr anders sein kann. Standardisierung verunmöglicht diese Flexibilität.
Überprüfbar, bewertbar, anwendbar
Es begann mit den Pisa-Schulleistungsstudien im Jahr 2000. Im Pisa-Zeitalter untersteht vieles der Logik der Ökonomie. Der Mensch muss marktfähig und marktförmig sein. Die Studie selbst zielt ja auf den Homo oeconomicus. Es geht um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. Der Test soll darum bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten messen, „die für das tägliche Leben relevant sind“.
So fordert es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Darum ist es nichts als konsequent, dass Pisa einen reduktiven Kompetenzbegriff ins Zentrum stellt und nicht von Bildung spricht. Der Ausdruck Bildung passt nicht in diese Konzeption; gefragt sind das unmittelbar Nützliche und Anwendbare.
Die Vermessenenheit, alles zu vermessen
Dieses Nützliche ist in einer Art von pädagogischem Fertigungsprozess planbar und herstellbar, so die Devise. Darum zielt heute fast alles auf Steuern und Lenken. Hinter diesem Begriffspaar verbirgt sich eine der zentralen Kategorien des neuen Bildungsverständnisses. Die Dominanz der Steuerung im Sinne soziökonomischer Funktionstüchtigkeit kanalisiert das Lehren und Unterrichten; dieser Primat segelt unter dem Vorzeichen von Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement und Evaluation. Kompetenzstandards normieren den Output von Lern- und Ausbildungswegen.
Die erwarteten und als relevant bezeichneten Bildungseffekte werden in ein testfähiges Format transformiert; mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung sind sie erfassbar und kontrollierbar. So wird Bildung geplant und gesteuert, limitiert und formatiert, in Ankreuztests und Messung reproduziert. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.
Nicht auf Kompetenzen reduzierbar
Wenn man Lernen und Bildung mit Messbarkeit koppelt, dann impliziert das in letzter Konsequenz den Ausschluss wesentlicher Aspekte des Menschlichen aus dem Bildungsbegriff. Denn wie lässt sich eine kognitive, soziale, emotionale Persönlichkeitswerdung und Urteilsfähigkeit (ver-)messen?
Das Wesentliche der pädagogischen Aufgabe aber besteht in der Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist die Kunst, individuelle und soziale Prozesse des Wahrnehmens und Sich-Ausdrückens, des Suchens und Ordnens, des Nachdenkens und Problemlösens zu ermöglichen. Die Schule soll lehren, wie man denkt – und nicht, was man denkt.
Freiheit und Vertrauen
Die gesunde Balance zwischen der Kern-Interaktion Unterricht und der notwendigen Kontrolle durch Evaluation geht verloren. Die externe Steuerung über den Output nimmt überhand. Wer die umfangreiche Meta-Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie *3) vorurteilslos studiert, sieht schnell: Das Eigentliche und Wesentliche, nämlich lernwirksamer Unterricht, geschieht in einer Atmosphäre des Vertrauens und intensiver pädagogischer Interaktion.
John Hatties Erkenntnisse orten den Königsweg zur Schulqualität weder in der Standardisierung noch in der Zentralisierung, sondern in der Unterrichtsqualität der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer. Auf sie und ihr Wirken kommt es an. Hier müsste die Bildungspolitik investieren, nicht in eine aufgeblähte externe Testindustrie.
Euklids Schüler wurde sicher ein brauchbarer Erbsenzähler, doch die Gesellschaft erwartet von der Schule zu Recht mehr.
*1) Claudia Wirz, Wer wird Millionär – oder was ist ein gebildeter Mensch?, in: NZZ, 6.11.13
*2) Konrad Paul Liessmann (2006), Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Paul Zsolnay Verlag, S. 10; ders. (2014), Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Paul Zsolnay Verlag
*3) Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Die Hattie-Studie gilt international als Referenz.