Isabelle Menke ist Schauspielerin und gehört in diese Schauspieler-Gruppe um den lettischen Regisseur Alvis Hermanis, der in den letzten Jahren Kultstatus erlangt hat mit seinen Inszenierungen. Eigentlich hatte er sich vom Sprechtheater bereits ab-, und der Oper zugewandt. Diese neueste Produktion verbindet nun beides.
„Er ist unglaublich charmant, klug und inspirierend“, schwärmt Isabelle Menke. „Er öffnet Phantasieräume, man kann ihm total vertrauen, man spürt von der ersten Minute an, dass es ein toller Abend werden kann.“
Ein toller Abend soll es also werden, obwohl er Elemente mit sich bringt, die niemand wirklich liebt: Altwerden, Dahinsiechen, Sterben. Aber tröstlich verbrämt durch betörende Musik, schmelzend oder dramatisch und durch die grosse Geste auf der Opernbühne.
Potenzierte Gefühle
Wir sitzen jetzt in einem grossen, kahlen Sitzungszimmer im Schiffbau. Ein Fenster steht offen, etwas laue Frühlingsluft dringt ein, Isabelle Menke hat gerade die Probe beendet. Was ist das denn nun, diese Produktion? Oper im Schauspielhaus? „Es ist eher die Sehnsucht nach Oper“, sagt sie. „Die alten Menschen, die wir spielen, verbinden Oper ganz stark mit Leben. In der Oper ist alles hyperlebendig. Die Liebe wird ganz stark gelebt, ebenso die Verzweiflung. Kino, sagt man ja oft, ist ‚bigger than life‘, also alles ist gerade noch einen Zacken grösser als im realen Leben. Das gilt auch für die Oper. Gefühle werden potenziert durch die Musik, die sie in die Länge zieht.“
Das Stück, von dem Isabelle Menke spricht, spielt in einem Altersheim. Die Bewohner sind alt, uralt, hundert Jahre vielleicht. Sie warten auf den Tod. Und sie erinnern sich an Sterbeszenen in der Oper. Nirgends wird so schön gestorben, wie in der Oper. Die alten Leute schwelgen in den herzzerreissenden Szenen, sie spielen sie sich gegenseitig vor. Zum Zeitvertreib, vielleicht auch als Probe dessen, was in absehbarer Zeit auf sie selbst zukommt.
Sogwirkung
Ist das aber nicht ein bisschen frivol, das Sterben so auf die leichte Schulter zu nehmen und sich anhand der alten Leute auf der Bühne darüber lustig zu machen? „Wir machen uns nicht lustig“, wehrt Isabelle Menke ab. „Wir haben doch alle eine Sehnsucht nach einem schönen Tod. Aber was ist ein schöner Tod? Überraschend und schmerzfrei aus dem Leben gerufen zu werden, ist das ein schöner Tod? Oder eher, wenn man das eigene Sterben noch miterlebt und sich vom Leben und von anderen Menschen noch verabschieden kann? In der Oper sind die Sterbeszenen für das Publikum schön, weil man sich dabei mit dem eigenen Tod auseinandersetzen kann, weil man in diesem Moment selbst weinen und traurig sein darf.“
Ein Theaterstück im herkömmlichen Sinne ist das nicht. Ein Text war zu Beginn der Proben nicht vorhanden. „Am Anfang gab es überhaupt nichts“, sagt Isabelle Menke. „Es gab nur eine Liste mit zehn Opern, die wir alle mal genau studieren sollten.“ Beim anschliessenden Diskutieren und Ausprobieren hat sich bald eine Erkenntnis herausgeschält. „Wenn auf der Opernbühne jemand stirbt, dann gibt es laute Bravorufe und es wird geklatscht.“ Denn begleitet wird dieses Sterben zumeist von einer wunderschönen Arie, die Sterbende noch singen dürfen. „Die Oper hat hier Sogwirkung: man wird hineingezogen und es passiert etwas Grosses, Emotionales. Alles kann zuletzt noch gesagt werden und die Musik findet einen Ausdruck dafür.“
Auf der Bühne sterben
Aus dem Teamwork zwischen Schauspielern und Regisseur Alvis Hermanis sind nun diese „Schönsten Sterbeszenen“ entstanden. Und welches sind denn nun die drein schönsten Sterbeszenen? „Also ich kann so viel verraten: ‚Tristan und Isolde‘ kommt vor. Die beiden sterben sogar zweimal. Einmal, indem sie den Todestrank trinken, der sich dann als Liebestrank herausstellt. Dann sterben sie noch einmal. An der Liebe, wenn man so will…
Und es gibt sehr schöne Sterbeszenen in ‚Eugen Onegin‘, wenn dieser Lenski vor dem Duell mit Eugen Onegin eine wirklich wundervolle Arie singt.“ Ganz besonders eindrücklich findet Isabelle Menke auch den Schluss von „Bajazzo“. „Das hat ja auch viel mit Theater zu tun, wenn beim Bajazzo die Verzweiflung darüber aufkommt, dass man das ganze Leben nichts gemacht hat, das wirklich wichtig und wertvoll war. Dass man eigentlich immer nur die Leute zum Lachen gebracht hat.
Und in dem Moment, wo es einem schlecht geht, wo man merkt, dass die Liebste einen nicht mehr mag und einen anderen hat, da spürt man, dass man alt und ungeliebt ist und dass nichts zurückbleibt. Dann kommt das grosse Wehklagen darüber, dass man immer nur etwas vorgespielt hat und als Mensch nie wirklich da war.“ Die Leute im Altersheim könnten sich dann aber sagen, naja, so schwer wie dieser arme Bajazzo, habe ich es zum Glück nicht…
Sechs-, siebenmal sei sie im Laufe der Zeit auf der Bühne schon gestorben, sagt Isabelle Menke. Gibt es da manchmal auch ein ungutes Gefühl oder ein bisschen Aberglauben? „Ich selber empfinde das nie so. Wenn man im Schauspiel stirbt, dann versucht man den Puls auf null zu schalten. Dann bleibt man liegen, bis der Vorhang fällt und das Umbaulicht angeht. Bei unseren Opern-Sterbeszenen erleben wir dagegen das Sterben und sind auf der Bühne gar nicht tot. Wir sehen uns um und fragen: Und? Wie war ich denn nun? Und alle rufen bravo! Also in dem Moment, wo wir ‚tot‘ sind, kommt das Leben zurück.“
Musik ist Zeit
Es ist schon eine vertrackte Sache: Schauspieler spielen Menschen, die das Sterben in der Oper vor Publikum spielen. „Manchmal ist es das subjektive Empfinden der Figur, das man als Zuschauer in der Oper hört“, erklärt Isabelle Menke. „Also man sieht zu, wie auf der Bühne ein Darsteller stirbt. Ein dramatischer Moment. Der Sänger hält die Luft an, versucht zu atmen, er staunt, er erschrickt und dann kommt der Komponist und erfindet eine Musik, die sein ganzes Empfinden wie durch ein Wunder hörbar macht für alle anderen. Man sagt ja, wenn jemand stirbt, zieht sein ganzes Leben innert Sekunden oder Minuten noch einmal an ihm vorbei. Das macht in der Oper die Musik. Musik ist Zeit, die man hört.“
Das Thema Altwerden beschäftigt den jetzt fünfzigjährigen Alvis Hermanis nicht erst seit diesen „Sterbeszenen“. Schon 2003 hat er in seinem „Neuen Theater“ in Riga das Stück „Long Life“ auf die Bühne gebracht, in dem es um fünf alte Leute geht, die von Jungen gespielt werden. Rund 400 Vorstellungen in 30 Ländern hat das Ensemble seither aufgeführt – und es sind immer noch die gleichen Darsteller, die inzwischen auch älter geworden sind…
In Zürich dauert der Alterungsprozess der Schauspieler weniger lang. Die Maskenbildnerei macht’s möglich, braucht aber auch Stunden, um einen Altersunterschied von Jahrzehnten mit Schminke herzustellen. „Man hat das Gefühl, dass man als Schauspieler gar nicht mehr sichtbar ist unter der Maske. Man ist eher ein Orchesterspieler als ein Solist. Gleichzeitig muss man aber unter dieser dicken Schicht aufpassen, denn manchmal verstärkt die Maske die Mimik.“ Zurückhaltung beim Spiel ist also durchaus angesagt.
Magischer Ort
Und welche Beziehung hat sie selbst zur Oper? Sieht sie sich auch Sterbeszenen auf der Opernbühne an? „Nicht nur Sterbeszenen! Ich mag Barockopern sehr, die jetzt bei uns in den ‚Sterbeszenen‘ nicht vorkommen. Ich liebe alle Mozart-Opern und manchmal auch ganz moderne Opern.“ Schon als Kind, sagt sie, habe sie viel gesungen und die Grossmutter habe ihr bei jedem Besuch eine Arie aus „Orpheus und Euridike“ vorgesungen. Genervt hat sie das nie. Denn: „Die Oper war für mich schon als Kind ein magischer Ort.“
Dann schwingt sie sich aufs Velo und braust davon durch den Feierabendverkehr in Zürich West.
Fotos: Porträt Alvis Hermanis: © T+T Fotografie;aus der Aufführung: © Tanja Dorendorf; Porträt Isabelle Menke: © Matthias Horn