Im Oktober 1850 erschien in der französischen Zeitung „La Presse“ ein Artikel des Journalisten und Politikers Jules Allix. Er pries darin seinen Zeitgenossen den sogenannten „pasilalinisch-sympathetischen Kompass“ an, eine kuriose drahtlose Informationsübermittlung zwischen – Schnecken. Schnecken würden, gemäss einer Theorie von zwei Esoterikern, nach der Paarung ein feinstoffliches Medium absondern, das sie zeit ihres Lebens telepathisch verbindet, über beliebige Distanzen hinweg.
Der Prototyp der Apparatur bestand aus zwei entfernt aufgestellten Kästen, in denen man nach der Paarung getrennte Schnecken auf Tellern gefangen hielt. Jedes Tier trug als Kennzeichen einen Buchstaben des Alphabets. Die Fühlhörner stellten also quasi die Tastatur dar. Die Idee: Erregte man die Schnecke A, dann würde dies auch der Paarungspartner A unverzüglich fernempfinden. Auf diese Weise liessen sich Buchstaben, Wörter und Sätze instantan übermitteln. Die Zeit war empfänglich für solche Ideen. Nicht nur hatte man die Bioelektrizität entdeckt, die Telegrafie faszinierte als neue revolutionäre Informationsübertragung. Die Rede war deshalb auch vom „Schneckentelegrafen“. Heute würde man vom Internet der Schnecken sprechen.
Wood Wide Web
Allix’ Erfindung entpuppte sich als Betrug. Aber nicht das Technische interessiert hier, sondern etwas anderes: Wissenschafts- und Technikgeschichte sind immer auch Metapherngeschichte. Wir übertragen Metaphern von der Technik auf die Natur – und umgekehrt. Allix bediente sich der Telegrafen-Metapher zur Demonstration einer neuen Kommunikationsform bei Schnecken. Umgekehrt postulierte der berühmte Physiologe Emil Du Bois-Reymond, dass das „Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie“ schon in der „thierischen Maschine“, also in der Natur „vorgebildet“ sei.
An die Stelle der „thierischen Maschine“ tritt heute die Computermetapher. Fragen wir also: Sind in der Natur Ansätze zum Internet „vorgebildet“? Ein schönes Beispiel bietet das Kommunikationsnetz des Waldes, wo es nicht nur rauscht, sondern Bäume auch miteinander „sprechen“. Pflanzen leben mit Pilzen in vielgestaltiger Symbiose. Der deutsche Botaniker Albert Bernhard Frank prägte dafür im 19. Jahrhundert den Begriff der „Mykorrhiza“: ein erstaunlich raffiniertes unterirdisches System, nicht nur des Stoff-, sondern auch des Informationsaustauschs. Eine Analogie drängt sich geradezu auf. So könnte man zum Beispiel Pilzfäden im Waldboden als pilzartiges lokales Netzwerk bezeichnen: „fungoid local area network“ (FLAN). Was liegt näher, als hier von einer natürlichen Vorform des Internets zu sprechen – von einem „Wood Wide Web“?
Il n’y a pas de hors-information
Information und Netzwerk sind zu Leitmetaphern – Paradigmen – unseres Zeitalters geworden. Leben ist nicht bloss Stoffwechsel, Leben ist ein semiotischer Prozess, ein permanenter vernetzter Informationsfluss zwischen Organismen. Die Buttersäure, die ich ausdünste, ist für die Zecke Information, sich auf mich fallen zu lassen; das Nashorn, das im Kot seines Artgenossen schnüffelt, „liest“ Informationen über die Paarungsbereitschaft heraus; Glühwürmchen blinken, Heringe furzen sich, Flusskrebse pinkeln sich gegenseitig Informationen zu. Um ein geflügeltes Wort der Postmoderne abzuwandeln („Il n’ y a pas de hors-texte“, Jacques Derrida): Il n’ y a pas de hors-information. Es gibt kein „Ausserhalb“ der Information, weder in Kultur noch Natur.
Manifestiert sich also im Pilznetzwerk zwischen den Bäumen, in diesem ganzen „sprachlosen“ Austausch von Nährstoffen, Hormonen, Toxinen eine Genealogie, an deren Ende der sprachliche Austausch der Menschen steht? Das ist eine gewaltige Frage, nämlich nach der Entstehungsspur des Geistes in der Natur.
Signal und Symbol
Zuallererst sind freilich klare Unterscheidungen gefragt. Ich beschränke mich hier auf zwei Grundarten der Information: Information zu etwas, und Information über etwas, kurz: Signal und Symbol. Eine Verkehrsampel signalisiert mir, zu warten oder zu gehen. Das Bild einer Ampel symbolisiert die Ampel – das Bild sagt mir nicht „Warte“ oder „Gehe“. Signal und Symbol informieren mich, aber im ersten Fall bewirkt die Information einfach eine Aktion, im zweiten Fall hat die Information einen „Inhalt“ über die Aktion hinaus, einen semantischen Mehrwert.
Sprechen wir also von Informationsaustausch im Reich der Tiere, Pflanzen und Pilze, sollten wir sorgfältig auf diesen Grundunterschied achten. Wenn im Pilzmyzel des Waldbodens bestimmte Stoffe als Signale zwischen Bäumen fliessen, heisst das, dass die Signale Ursachen bestimmter Effekte sind, und nicht, dass die Bäume via Myzel miteinander über etwas „sprechen“. Das ist Märchensprache. Bei Tieren sind die Dinge schon nicht mehr derart eindeutig. Zumindest gewisse Primatenarten, etwa Meerkatzen, scheinen über eine primitive Vorform von Semantik zu verfügen. Ihre Alarmrufe sind differenziert, sie unterscheiden zwischen verschiedenen Feinden, was die Vermutung bestärkt, sie würden nicht bloss Signale zur direkten Handlung austauschen, sondern sich „über“ diese Feinde verständigen. Selbstverständlich muss die Artspezifität solcher Verständigung hervorgehoben werden.
Die Falle des Anthropomorphisierens
Metaphern sind zweischneidig. Sie haben durchaus eine Erkenntnisfunktion. Sie können im Unähnlichen das Ähnliche sichtbar machen, die forschende Neugier auf nicht gestellte Fragen lenken, – sie können ein Phänomen buchstäblich „designen“, aus einem Hintergrund herausmodellieren. Wenn wir früher vor lauter Bäumen den Wald nicht sahen, so sehen wir jetzt dank der Metapher des Wood Wide Web auf einmal das Kommunikationsnetz Wald.
Aber Metaphern sind keine Erklärungen, sie markieren bloss deren Anfang. Pflanzen, die „lernen“ und „sich erinnern“, chemische Botenstoffe, die „Wissen“ von Baum zu Baum übertragen: das sind eingängige Bilder, die uns zweifellos im Verständnis natürlicher Phänomene helfen – bis zu einem gewissen Grad. Überschreiten wir diesen Grad, tappen wir in die Falle des Anthropomorphismus. Sie droht besonders in der Redeweise vom Internet der Bäume. Wir erklären Beziehungen zwischen Pflanzen mit Begriffen, die selber erklärungsbedürftig sind. Wir drehen uns im Kreis. Petitio Principii nennen dies die Philosophen – einer der gröbsten Denkfehler.
Bio-Semiotik: Ein Grossprojekt für das 21. Jahrhundert
Dennoch: In der Internet-Metapher steckt heuristisches Potenzial. Sie könnte uns einen Blick lehren, der menschliche Kultur und Technik nicht „disruptiv“ von Natur und Evolution trennt. Unterschätzen wir nicht das natürliche Erbe, das wir mit anderen Lebewesen teilen; unterschätzen wir freilich auch nicht die grossen Unterschiede, welche den Menschen dank Kultur zum Animal symbolicum werden lassen. Öffnet man den Gesichtswinkel auf Tier-, Pflanzen- und Pilzreich so, dass auch der nicht-symbolische, nicht-semantische Zeichengebrauch als eine Form von Kommunikation erscheint, dann wird man auf einmal einer überraschenden Fülle von „Gesprächsformen“ in der nicht-menschlichen Natur gewahr.
Leitmetaphern oder Paradigmen bestimmen das Studium der Naturphänomene: sie geben die allgemeine Frage- und Interpretationsrichtung vor. Die Idee, dass Biologie im Wesentlichen Zeichenwissenschaft, „Bedeutungslehre“ ist, stammt vom grossen Pionier der Ökologie, Jakob von Uexküll. Er formulierte sie vor gut einem Jahrhundert. Und seit vier bis fünf Jahrzehnten entwickeln die Biologen Modelle der Zoo- und Phytosemiotik, also von Zeichenprozessen im Animalischen und Vegetativen. Das Internet könnte hier quasi die Rolle eines metaphorischen Katalysators spielen. Aufs Ganze gesehen gewänne so ein post-cartesianisches Forschungsprogramm an Kontur und Relevanz, das mentales Leben nicht allein uns Menschen vorbehält, sondern solches Leben in artspezifischer Ausprägung auch in der nicht-menschlichen Natur wahrnimmt. Wir würden eine echte Naturgeschichte des Geistes zu schreiben beginnen – ich sehe darin das grosse Projekt des 21. Jahrhunderts.