Den Wahlsieg Donald Trumps im November 2016 und den knappen Erfolg der Brexit-Befürworter ein paar Monate zuvor empfinden viele Beobachter als schwer verdauliche Volksverdikte. Bald zirkulierten Berichte, diese seien durch raffinierte Fake-News und andere manipulative Praktiken im Internet entscheidend beeinflusst worden. Im Zentrum der kritischen Beleuchtung standen vor allem die britisch-amerikanische Datenfirma «Cambridge Analytica» und die Trollfabrik des Putin-Freundes Jewgeni Prigoschin in St. Petersburg.
Abgesaugte und bezahlte Facebook-Daten
Nun hat Netflix einen Dokumentarfilm produziert, der die komplexe Geschichte von «Cambridge Analytica» und des angeblich «grössten Datenklaus aller Zeiten» erzählt. «Cambridge Analytica» ist zwar bereits im vergangenen Jahr Bankrott gegangen. Doch die Story ihrer Propagandamethoden im Internet beschäftigt mit guten Gründen weiterhin die Gemüter – natürlich auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit zukünftiger demokratischer Entscheidungen. Überdies haben Exponenten dieser Firma bereits ein Nachfolgeunternehmen namens Emerdata gegründet, das sich ebenfalls mit Datenverarbeitung beschäftigt.
Unbestritten ist, dass «Cambridge Analytica» gegen 90 Millionen Datensätze (die Zahlenangaben sind nicht immer übereinstimmend) von Facebook-Nutzern abgesaugt (wofür sich Facebook bezahlen liess) und unter anderem für Aufträge der Trump-Kampagne und der Brexit-Befürworter in Grossbritannien eingesetzt hat. (Facebook ist unlängst von der US-Handelsaufsicht wegen des unsorgfältigen Umgangs mit Nutzerdaten eine Strafzahlung von fünf Milliarden Dollar aufgebrummt worden.)
«Targeted messages»
Mit Hilfe dieser Daten sind im Wahlkampf 2016 sogenannte «targeted messages» (gezielte Nachrichten) im Internet an bestimmte Wählergruppen in strategisch besonders wichtigen amerikanischen Einzelstaaten verschickt worden. Sie richteten sich in erster Linie an sogenannte «persuadables», von denen man anhand ihrer Daten annahm, dass sie in ihrer Wahlentscheidung noch schwankend waren. Sie hoffte man durch gezielte Botschaften für Trump zu gewinnen.
Die Bedeutung solcher Propagandapraktiken scheint auf den ersten Blick umso gewichtiger, wenn man bedenkt, dass Trump die Wahl gegen Hillary Clinton nur gewann, weil er die drei Swing-Staaten Michigan, Pennsylvania und Wisconsin mit einer hauchdünnen Mehrheit von insgesamt 79’646 Stimmen gewonnen hatte. Da stellt sich schnell die Frage, ob in diesen drei entscheidenden Staaten ohne Hilfe von «Cambridge Analytica» vielleicht ein anderes Ergebnis herausgekommen wäre.
Vage Vermutungen
Ich habe die Netflix-Dokumentation noch nicht gesehen, aber einige Besprechungen dazu in verschiedenen Zeitungen gelesen. Die Meinungen schwanken zwischen schwerer Besorgnis über die manipulativen Aktionen bis zu deutlicher Skepsis über deren Stellenwert. Ein Punkt aber bleibt klar und das kann auch nicht überraschen: Es gibt keine Beweise, welchen Einfluss die Nachrichten von «Cambridge Analytica» auf die Wähler und damit auf das Wahlergebnis hatten.
Es gibt ja auch keine stichfesten Belege dafür, wie konventionelle Wahlwerbung (Plakate, Fernsehen) genau auf die Entscheidungen der Wähler wirken. Kein Wähler wird in den Nachwahlbefragungen je genau beantworten können, aufgrund welcher Propaganda er für diesen oder jenen Kandidaten gestimmt hat. In aller Regel handelt es sich bei Aussagen über den Effekt von Wahlkampagnen um mehr oder weniger schlau formulierte Vermutungen. Aber natürlich haben die Werbemacher und Datenjongleure selber grösstes Interesse daran, ihren Auftraggebern und dem Publikum einzureden, dass es ihre geniale Strategie war, die den Erfolg herbeigezaubert habe.
Relativieren und scharf beobachten
Zur Vorsicht gegenüber einer Überschätzung von Internetpropaganda und Fake-News gerade bei Wahlprozessen mahnen auch jüngere professionelle Untersuchungen. So ist laut NZZ das Reuters Institute in London im Frühjahr 2018 zum Schluss gekommen, dass konventionelle Medien (Fernsehen, Zeitungen) bei der politischen Meinungsbildung eine erheblich stärkere Wirkung ausüben als alternative Kanäle. Und der US-Senat hat Anfang 2018 ein Papier veröffentlicht, in dem festgestellt wird, dass zwischen September und November 2016, also kurz vor dem Termin der letzten Präsidentschaftswahl, insgesamt 2,12 Millionen Tweets von Robotern versendet wurden, die einen russischen Hintergrund hatten und sich mit Wahlen befassten. Nach dieser Quelle machte dies lediglich 1 Prozent aller damals zirkulierenden Tweets aus.
Mit solchen Relativierungen sollen die möglichen Gefahren von manipulativen Praktiken und Fake-News im Internet bei der politischen Meinungsbildung und insbesondere bei Wahlentscheidungen keineswegs negiert werden. Es ist wichtig, dass demokratische Staaten solche Umtriebe im Cyberspace scharf beobachten und Missbräuche durch griffige Gesetze verhindern. Doch notwendig ist es ebenso, gegenüber Panikmachern, Verschwörungstheoretikern und andern Wichtigtuern Abstand zu halten, die ohne wasserdichte Belege behaupten, genau zu wissen, mit welcher cleveren Methode dieser oder jener Wahl- oder Abstimmungserfolg erzielt worden sei.