Giorgia Meloni hat alle überrascht. Wer befürchtet hatte, sie würde einen wuchtigen rechtsradikalen Konfrontationskurs einschlagen, sah sich bisher getäuscht. Sie gibt sich zahm wie ein Lämmchen. Doch längst nicht alle glauben ihr.
Einige Prozentsplitter genügen oft für eine fette Schlagzeile. «Niedergang der Fratelli d’Italia» titelte diese Woche die Römer Zeitung «La Repubblica». Und: «Melonis Partei fällt weiter.»
Was ist geschehen? Laut einer jüngsten Umfrage des Forschungsinstituts Swg hat die Meloni-Partei 0,4 Prozent an Zustimmung verloren. Schon letzte Woche waren es 0,5 Prozent. Ipsos eruierte ein Minus von 1,2 Prozent. Die Fratelli d’Italia bleiben aber mit riesigem Abstand stärkste italienische Partei.
Trendwende?
Was sind schon 0,4 oder 0,5 Prozent oder 1,2 Prozent? Monatelang legte die Meloni-Partei ständig zu. Und jetzt ermitteln alle grossen Umfrage-Institute minime Verluste – zum ersten Mal seit fast einem Jahr. Eine Trendwende?
Ist es sinnlos, über 0,4 oder 0,5 Prozent oder 1,2 Prozent zu spekulieren? Trotzdem: Meloni steht an einem Scheidepunkt. Sie muss endlich Farbe bekennen, sonst laufen ihre Gefolgsleute davon. Noch weiss man nicht, was die Ministerpräsidentin überhaupt will.
Ruhe in Rom
Am 22. Oktober hatte Meloni als erste italienische Ministerpräsidentin ihr Amt angetreten. Die Befürchtungen waren gross, nicht ganz zu unrecht. Würde sie mit ihrer bekannt aggressiven, lauten und oft rüpelhaften Art die EU provozieren, beschädigen und schwächen? Würde sie die Grenzen schliessen und mit Viktor Orbán eine gewichtige illiberale Allianz bilden? Würde mit ihr Italien vom demokratischen Weg abkommen?
Und jetzt? Nichts von alldem. Zur Zeit ist es fast ruhig in Italien. Meloni reiht sich nahtlos ins westliche Anti-Putin-Bündnis ein und bekennt sich zur Nato.
Wo bleiben die anti-europäischen Tiraden?
Den Wirtschaftskurs der Regierung von Mario Draghi führt sie grundsätzlich weiter. In Brüssel tritt sie als schäkernde Kumpanin der EU auf. Von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde sie am 9. Januar herzlichst empfangen. Vor Kameras flirtet Meloni – Küsschen, Küsschen, Händehalten – mit Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rats. Umarmung auch mit Filippo Grandi, dem Hochkommissar für das Flüchtlingswesen (UNHCR).
Wo sind Melonis einst rabiate Anti-EU-Tiraden geblieben?
Brüskiert sie die EU, kommt kein Geld
Hat Meloni eingesehen, dass Italien mit einem Anti-EU-Kurs nur verlieren kann? Ist sie eine vernünftige, pragmatische Politikerin geworden, die im westlichen Bündnis einen vernünftigen pragmatischen Kurs steuern will? Oder ist das alles nur Taktik, Strategie, Maske? Wartet sie nur ab? Einig sind sich fast alle: Signora Meloni ist clever.
Kann sich eine eingefleischte Postfaschistin so schnell vom Saulus zum Paulus wandeln?
Der Flirt mit Brüssel lässt sich erklären. Die EU hat Italien einen Aufbaukredit von 200 Milliarden Euro zugesagt – zahlbar in Tranchen. Natürlich fliesst das Geld nur, wenn Italien mit der EU zusammenarbeitet und die Bedingungen für die Zahlung der einzelnen Tranchen erfüllt. Meloni befindet sich also in einer Art Geiselhaft von Brüssel. Brüskiert sie die EU, kommt kein Geld. Auch in der Migrationsfrage und der Verteilung der Flüchtlinge ist Italien auf die EU angewiesen.
Zweifel
Ihre ersten hundert Regierungstage waren fast schon langweilig: farblos, keine Provokationen. Grosse Reformen, wie sie Meloni im Wahlkampf versprochen hatte, blieben bisher aus. Einzig in der Migrationsfrage zeigte sie ihre Krallen. Und das Ringen um die Haftbedingungen des Anarchisten Alfredo Cospito sorgen für einige Aufregung.
Ist Meloni wirklich geläutert? Langjährige italienische Experten in Rom äussern Zweifel.
- Seit ihrem 15. Lebensjahr wurde Meloni in neo- und postfaschistischem Umfeld sozialisiert. Kann man das von einem Tag auf den andern über den Haufen werfen?
- Noch kurz vor den Wahlen sprach sie vor der rechtsextremen spanischen Partei Vox. Dieser Auftritt liess viele erschaudern.
- Immer wieder hatte sie sich als Anhängerin von Viktor Orbán und seiner illiberalen Demokratie geoutet.
- Während der letztjährigen französischen Wahlen sagte Meloni: «Ich bin für Marine Le Pen. Auf der Seite des Volkes, gegen das Establishment. Forza Marine.» Inzwischen hat sich das Verhältnis zwischen Meloni und Le Pen abgekühlt – allerdings nicht aus ideologischen, sondern aus persönlichen Gründen.
- Bei Wahlauftritten liess sich Meloni beschützen von Schlägertypen der rechtsextremen «Forza Nuova» und der ebenso rechtsextremen «Casa Pound».
- Es ist noch nicht allzu lange her, da sagte sie, die Mussolini-Nachfolgepartei MSI-Partei sei eine Stütze der italienischen Demokratie gewesen.
- Einmal schlug Meloni die Abschaffung des 2. Juni als italienischen Nationalfeiertag vor. An diesem Tag wird der Sieg über die Nazis und die Faschisten gefeiert. Dieser Tag sei «ein spaltender Feiertag», erklärte sie zur Freude der alten und neuen Faschisten.
- Im Wahlkampf weigerte sie sich, das Parteisymbol der Fratelli zu ändern. Es zeigt die grün-weiss-rote Flamme über dem stilisierten Sarg des Duce.
Kann sich eine eingefleischte Postfaschistin so schnell vom Saulus zum Paulus wandeln? Selbst wenn sie geläutert wäre: Sie schleppt ein schweres postfaschistisches Erbe mit sich. Zehntausende in ihrer Partei bewundern Mussolini auch heute noch. Vielleicht sind es auch mehr.
«Wir sind alle Erben Mussolinis»
Dazu kommt ihre Entourage: In Ihrem Machtapparat hat sie sich mit Leuten umgeben, die einen zweifelhaften Ruf haben und die starken Einfluss auf sie nehmen.
Senatspräsident Ignazio La Russa, Mitglied der Fratelli, zeigt offen seine teilweise Bewunderung für Mussolini. Er gilt als Weisswascher des italienischen Faschismus. «Wir sind alle Erben Mussolinis», sagt er. Er, ein HSG-Absolvent, ist der Mann, der zuhause eine Sammlung von Mussolini-Büsten und -Skulpturen ausstellt. Benito Mussolini habe doch vieles richtig gemacht, sagt er.
50 Ave Maria pro Tag
Oder Lorenzo Fontana, der Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer, ein irrer, ultrakatholischer Fanatiker, ein Putin-Verehrer, der Kontakte zu rechtsextremen europäischen Parteien pflegt. Er verbreitet die verrücktesten Verschwörungsgeschichten. Die weisse Rasse sei in Gefahr und müsse sich wehren. Deshalb müssten Flüchtlinge ausgeschafft werden. Ziel der ankommenden Muslime sei es, das Christentum zu zerstören. Er ist gegen alles «Multikulturelle», gegen Homosexuelle und gegen Abtreibung. Laut der Zeitung «La Repubblica» betet er 50 Mal am Tag ein Ave Maria.
Mit diesen Leuten regiert jetzt Meloni. Das sind keine Hinterbänkler, sie haben grossen Einfluss. Sie sitzen neben ihr. Es ist klar, dass diese Leute die Politik mitbestimmen wollen. Zur Zeit halten sie alle noch still: keine Provokation, kein Öl ins Feuer giessen.
Die Leute wollen Resultate sehen
Doch der Druck auf Meloni wächst. Ihren Anhängerinnen und Anhängern hat sie während des Wahlkampfs vieles versprochen. Diese Leute wollen jetzt Resultate sehen. Doch bisher gab es keine Resultate. Ist das der Grund, weshalb ihre Zustimmungswerte sachte zu bröckeln beginnen? Einige ihrer Verbündeten hat sie offenbar bereits enttäuscht.
Was will sie eigentlich?
Vor turbulenten Zeiten?
Hat sie eingesehen, dass sie von Brüssel abhängig ist und dass Italien nur im EU-Gefüge weiterkommen kann? Hat sie gemerkt, dass ihre aufbrausende Art kontraproduktiv ist? Ist sie sich bewusst geworden, dass ihre Schäkerei mit Viktor Orbán und ihr Auftritt vor den spanischen Rechtsextremisten dazu führt, dass ihr Türen zugeschlagen werden?
Oder ist das alles nur Taktik? Will sie erst einmal abwarten? Will sie die Aufwallung, die Furcht, die ihre Wahl in Europa verursacht hat, abklingen lassen? Will sie sich etablieren, Goodwill schaffen, Beziehungen knüpfen, sich als valable Gesprächspartnerin in der internationalen Politik einführen?
Und will sie dann – wenn sie sich etabliert hat – ihre sehr rechtsgerichtete Agenda Schritt für Schritt verwirklichen?
Niemand weiss es wirklich. Es ist zu früh, um Meloni wirklich beurteilen zu können. Aber viele in Rom sind überzeugt, dass man sich mit Meloni noch auf turbulente Zeiten gefasst machen muss.