Der betagte Slogan „Es gibt sinnvollere Geschenke als alkoholische Getränke“ lenkt das Augenmerk aktuellerweise auf die Krawatten, die unter jeden Christbaum gehören, vor dem ein Mann sitzt. Es geht um dessen Selbstbewusstsein, dessen Identität und mithin um die aufatmende Bejahung eines Wortes des grossen Realisten Honoré de Balzac: „Ein Mann ist so viel wert wie seine Krawatte.“
Das schönste i-Tüpfelchen
Mit der Oper teilt sie das Schicksal. Immer wieder für tot erklärt, hält sie sich am Leben, das nachweislich im dritten vorchristlichen Jahrhundert begann. Die Soldaten der chinesischen Terrakotta-Armee im Mausoleum von Kaiser Qín Shǐhuángdì tragen um den Hals einen Schal. Aus ihm entwickelte sich im 17. Jahrhundert, inspiriert von kroatischen Söldnern in Frankreich, das „à la croate“ geschlungene Halstuch, aus ihm die „croatta“ und schliesslich die Krawatte.
Seither wurde sie mal breiter, mal schmaler, lässt sich vom „Four-in-Hand“ über den „Hannoveraner“ bis zum „Grantchester“ in zwanzig Arten knoten, hängt korrekterweise knapp über der Gürtelschnalle, trifft mit den Materialien, Farben und Sujets jeden Geschmack und jede Geschmacklosigkeit und stiftet neben der Zier mit dem Verdecken abgerissener Hemdenknöpfe auch einen praktischen Nutzen.
Ihre vornehmste Aufgabe aber erfüllt sie im ehrgeizigen Streben, wenn nicht der schönste i-Punkt der Welt, dann doch der Männer-Garderobe zu sein. Ihr bliebe sonst nichts als der ewig langweilige Wechsel von schmalen zu weiten Revers und vom Einknopf- über den Zweiknopf- zum Dreiknopf-Veston und zurück. Auch die Hosen mit Aufschlag und ohne sind lediglich eine Variation der Monotonie.
Modernisierungsstrategie
Da darf über die Mitteilung von Aldi Nord, die Beendigung des Krawattenzwangs am Arbeitsplatz sei eine konsequente Fortsetzung der „Modernisierungsstrategie in sämtlichen Bereichen“ als pathetische Falschaussage nur der Kopf geschüttelt werden.
Den nächsten und offenbar logischen Schritt im simpelsten aller Befreiungskämpfe vollzog Lidl bereits mit dem der Belegschaft nobel verliehenen Recht, die Topmanager per Vornamen anzureden. Man ist mit den lockeren Sitten auf Du und Du.
Vertracktes Problem
Für Coolness braucht es mehr als keine Krawatte. Der dunkle Anzug oder der gedeckte Veston mit dem geöffneten Hemdenkragen ist ein unentschlossenes Statement. Es würde Roland Barthes strukturalistisch Abgründe ausloten lassen.
Wenn schon ohne Krawatte, dann von Kopf bis Fuss eine legere Bekleidung. Alles andere entspricht in Vollendung dem, was dem Schlips vorgeworfen wird, nämlich der Tristesse und Bravheit.
Das Problem ist vertrackt. Die geglückten oder missglückten Versuche, mit der Krawattenlosigkeit eine stumme Botschaft abzusetzen, bedingen die Existenz der Krawatte. Ihr Fehlen fällt nur auf, weil ihr Vorhandensein erwartet wird. Ohne Krawattenträger keine Profilierung der Krawattenfreien. Sie sichern dem Schlips paradoxerweise die Zukunft.
Ehrenplatz
Ein unerschütterliches Lob auf die Krawatte und ihren hohen Rang in der Hierarchie der Ästhetik formulierte ausgerechnet der marxistische Philosoph Walter Benjamin: „Als ein geschätzter, kultivierter und eleganter Freund mir sein neues Buch übersandte, überraschte ich mich dabei, wie ich, im Begriff es zu öffnen, meine Krawatte zurecht rückte.“
Wir folgern daraus gerne, dass nicht bloss der Krawatte, sondern auch dem Buch auf dem weihnächtlichen Gabentisch ein Ehrenplatz gebührt.