Das einzige Vergnügen beim Schlangestehen ist, über das Schlangestehen nachdenken zu können. Nur schon dieses Wort! Eine Schlange, die steht? Aber kann man denn Schlangeliegen? (Obwohl es auch das gibt, etwa beim Vorverkauf für ein Monsterkonzert). Oder diese Überlegung: Steckt im Schlangestehen nicht genau der Sinn dieses Nichtstuns – lange stehen?
Und was es alles für Schlangen gibt – die längste, die schönste, die peinlichste, die multiple Schlange. Oder die intimste: Vor dem Toilettenblock eines Slums in Bombay, jede Wartende mit einem Wasserbehälter in der Hand.
VIP und VeryVip
Die Überhol-Schlange dagegen ist an den Orten zu besichtigen, die auch die längsten Schlangen produzieren: Vor und um und durch und auf und ab und in den Tempel. In Tirupati in Andhra Pradesh, Indiens reichstem Gotteshaus, gibt es drei Kolonnen von Pilgern, mit der Preisschranke als effizientem Sortiermittel. Die erste ist die längste, dafür ist sie gratis; die VIP-Schlange kostet 200 Rupien, mit einer Wartezeit von ein bis zwei Stunden. Die dritte ist für VVIPs reserviert, oder solche, denen ein rascher Anblick des Allerheiligsten 5000 Rupien wert ist. Alle drei kommen kurz davor zusammen. Zwei hemdsärmlige Swamis packen jeden Pilger – NIP, VIP, oder VeryVIP – an den Schultern, halten ihn kurz fest, und schieben ihn weiter. Vor Gott sind alle gleich.
Im Land der Schlangen gilt auch: Der Weg ist das Ziel. Deshalb sah ich die längste Schlange ebenfalls vor einem Tempel, jenem von Dakshineshwar in Kalkutta. Sie begann an den Ghats des Hooghly-Flusses, ging um einen riesigen Bus-Parkplatz, in einen Vorhof, wo sie sich in einer wunderbaren Serpentine vorwärts schlängelte, dann die Treppe hinauf, vorbei am Tor zum Kali-Tempel, vorbei an der Türöffnung von Ramakrishnas Klause. Dasselbe erlebte ich am gleichen Abend, Weihnachten 2005 (wie in meinem Buch ‚Abschied von Gandhi?’ beschrieben): Eine Schlange, die sich weit vor der Thomas-Kathedrale gebildet hatte, in die Kirche strömte, an den Gläubigen vorbei, an der Krippe vorbei, und wieder hinaus.
Wie ein Spielbetrüger
Die peinlichste Schlange? Ohne Zweifel jene an den Bahnschaltern der Vorortszüge von Bombay. Q Here steht über der Schalteröffnung, und links daneben das Schild First Class. Es hatte lange gedauert, bis ich die verschämte Symbolik dieser Schilder-Platzierung begriff: das Q Here galt für Zweitklass-Passagiere, das First Class für diese. Mit anderen Worten: Wer Erster Klasse fahren wollte, durfte die Schlange überholen. Bis heute fühle ich mich wie ein Spielbetrüger, wenn ich die oft dreissig Leute rechts neben mir stehen lasse und mich zuvorderst hineindränge.
Keine Schlange ist so schön wie jene vor den Wahllokalen bei einem nationalen Urnengang, draussen auf dem Land. Die Frauen tragen ihre besten Saris, die Dhotis und Nehru-Käppis der Männer sind weiss und gestärkt. Es ist der einzige Ort, wo man plötzlich denkt: Diesen Leuten kann sich die Schlange gar nicht langsam genug vorwärtsbewegen, so stolz sind sie, einmal alle fünf Jahre Meister ihres Geschicks zu sein.
Mehrfach-Schlangen
Alle diese Schlangenformen können der Subspezies Serpens romantica zugeordnet werden. In der Regel ist Schlangestehen aber eine öde, schwitzige, nerventötende Nicht-Tätigkeit. Sie ist es besonders dann, wenn sie in Form der Mehrfach-Schlange daherkommt. Die Flughafen-Schlangen etwa: Beim Eingang, beim Check-in, bei der Polizeikontrolle, bei der Abfertigung am Gate, beim Anstehen für den Bus, beim Anstehen vor der Flugzeugtreppe.
Immerhin ist dies eine Schlange, die dem Anreiz eines neuen Angebots entspringt – dem Billigfliegen – mit entsprechend grosser Nachfrage. Schlimmer sind die stockenden Schlangen, die sich bilden, weil das Angebot im bürokratischen Trott daherkommt. Wenn ich auf der Post einen Brief aufgeben will, muss ich zuerst anstehen, um ihn wägen zu lassen. Dann geht’s zu Schalter 2, wo die Briefmarke ausgehändigt wird; von da zurück an einen Tisch, wo ein Leimfässchen – notabene ohne Pinsel – dazu dient, die Marke aufs Couvert zu kleben. Zurück zu Schalter und Schlange Nr.4, wo der Brief gestempelt wird.
Nach vorne schwänzeln
Nicht viel anders geht es am Gateway in Bombay zu, wenn wir aufs Boot nach Alibagh müssen. Zuerst das Anstehen beim Ticket-Schalter; dann die Schlange vor der Polizeikontrolle, schliesslich das Anstehen vor der Treppe zum Boot, Alles in der brennenden Sonne.
Dies ist der Ort, wo sich mein banales Schlangestehen manchmal zu allindischen Weisheiten emporschraubt. Die Boote nach Alibagh sind fast immer voll, und jedem Wartenden – je weiter hinten desto deutlicher - steht die Angst im Gesicht; und die Entschlossenheit, es um jeden Preis aufs Boot zu schaffen.
Der Blick der Wartenden bohrt sich in jeden, der sich nicht hinten anstellt, sondern nach vorne schwänzelt, dort ein Gespräch mit einem Fremden beginnt, als hätte dieser dem Schlaumeier den Platz reserviert. Kommt noch ein zweiter, ein dritter hinzu, dann beginnt die Phalanx bereits zu wanken. Jeder denkt (ich inbegriffen): Was ist, wenn sich die Schlange nun auflöst? Sollte ich dem nicht noch schnell zuvorkommen, indem ich nach vorn sprinte? Dann der Gegenreflex: Aber damit löse ich ja ebendas aus, was ich befürchte.
Der Starke gewinnt
Meist bin ich dann schon zu spät. Vor der Treppe hinunter zum Boot steht plötzlich nicht mehr eine Schlange, sondern eine Traube. Und es wird noch indischer, weil sich gleichzeitig die eben angekommene Fähre entleert, Kinder und Frauen, Kofferträger und Kulis sich die Treppe hinaufkämpfen. Statt dass alle einigermassen über die Runden kommen, gewinnen die Starken, und nicht jene, die rechtzeitig anstanden.
Inzwischen weiss ich auch: Was sich da abspielt, ist ein klassisches Fallbeispiel der Spieltheorie, das Häftlingsdilemma. Ein Verbrecher-Duo wird getrennt verhört. Jeder hat die Wahl, zu gestehen, oder die Schuld dem Kumpanen zuzuweisen. Jeder weiss: Wenn ich gestehe, und der andere gesteht auch (‚Kooperation’), dann kommen wir beide günstig weg. Was aber, wenn der andere mir die Schuld zuschiebt – dann geht er frei aus und ich habe doppelt so lange zu sitzen. Lieber Verrat üben, auch wenn der andere gleich handeln wird und dies uns beiden die höchste Gefängnisstrafe beschert.
Sozialdarwinismus pur
So banal das Beispiel ist, so folgenreich ist es, wenn man es auf eine ganze Gesellschaft ausweitet und dabei zum Schluss kommt, dass die Mehrheit nur an sich denkt – also egoistisch handelt statt solidarisch. In seinem unterhaltsamen Büchlein Games Indians Play behauptet der Ökonome V.Raghunathan, der Inder sei mehrheitlich bereit, den anderen zu verpellen, solange er nur vorwärtskommt.
Ist also die Gateway-Szene typisch? Zahllose Beobachtungen scheinen das Vorurteil zu bestätigen. Das Verkehrsverhalten etwa ist Sozialdarwinismus pur, wo individuelle Intelligenz kollektiver Dummheit weicht. Ein Beispiel: Vor jedem Bahnübergang stauen sich die Fahrzeuge hinter- und nebeneinander, über die Gegenspur hinaus. Nicht selten dauert es zehn Minuten nach dem Hochziehen der Barriere, bis sich der Knäuel wieder auflöst. Ist es ein Verhalten, das den Indern angeboren ist? Gewiss nicht. Dennoch ist es endemisch, dank einer Warteschlange von ...1.3 Milliarden Menschen. Und jeder will aufs Boot.