Drei Gründe machen die Ausmarchung spannend. Erstens gibt es zwei von Peking abgesegnete Kandidaten und nicht wie früher nur einen. Zweitens kommt es, ähnlich wie in der Volksrepublik am Parteitag im Herbst, nach zehn Jahren auch in Hongkong zu einer Wachablösung; der amtierende Chief Executive Sir Donald Tsang Yam-kuen – populär und wegen seines Kravatten-Ersatzes als „die Fliege“ bekannt – kann laut Hongkonger Grundgesetz nach zwei fünfjährigen Amtsperioden nicht mehr kandidieren. Drittens schliesslich ist der Kampf um den wertvollen Sitz nach anfänglicher Langeweile von saftigen Affären, Skandalen und Schlammschlachten geprägt. Zum Ärger vermutlich der roten Mandarine im fernen Peking.
Die Vorgaben aus der Zentrale allerdings sind klar. Die Kandidaten müssen China- und Hongkong-Patrioten sein, sie müssen fähig sein, eine komplexe und mit über sieben Millionen Einwohnern recht grosse Region zu führen, sie müssen zudem Garanten für Stabilität, Ruhe und Ordnung und nicht zuletzt auch beim Volk beliebt sein. Die Wahl wird in zwei Stufen abgehalten. Zunächst haben bereits letztes Jahr rund 250'000 Männer und Frauen aus rund 30 Berufs- und Gesellschaftssektoren 1200 Wahlmänner bestimmt. Diese 1200 wählen nun am 25. März den neuen Chief Executive.
Gefragt: eine deutliche Mehrheit
Rein rechnerisch sind 601 Stimmen zur Wahl nötig. So aber versteht es Peking überhaupt nicht. Zwar wäre nicht Einstimmigkeit wünschenswert, denn das wäre allzu klar Diktat. Aber dennoch etwas mehr als das Minimum, so vielleicht sieben-, achthundert Stimmen, wäre politisch korrekt. Falls es aber – horribile dictu – zu keinem Entscheid käme, müsste nochmals im Mai, und dann vielleicht mit zusätzlichen Kandidaten, gewählt werden. Das wäre dann der Super-Gau für Peking und ist deshalb sehr unwahrscheinlich.
Es gibt mehrere Kandidaten. Aus dem demokratischen Lager hat sich der Parlamentarier Albert Ho Chun-yan der Herausforderung gestellt. Allerdings hat er keinerlei Chance. Die Wahl wird so zwischen zwei Kandidaten aus dem Pro-Peking-Lager entschieden: Henry Tang Ying-yen und Leung Chun-ying.
Ein Favorit …
Lange hat es danach ausgesehen, dass der ehemalige Chief Secretary Henry Tang Ying-yen – so etwas wie der Premierminister unter dem Chief Exec aka Präsident – der Favorit Pekings sei. Tang gilt als kompetent, patriotisch, führungsstark, erprobt und beim Volk beliebt – mehr konnte sich Peking gar nicht wünschen. Auch bei den für die Finanz- und Wirtschaftsmetropole wichtigen Kreisen von Unternehmern und Bankern geniesst Tang einen hervorragenden Ruf. Schaden konnte es auch nicht, dass Tangs ursprünglich aus der Provinz Jiangsu stammende Vater gute Beziehungen zu Kreisen um den ehemaligen Staats- und Parteichef Jiang Zemin hatte oder dass sich der steinreiche Tycoon Li Ka-shing öffentlich schon früh für ihn eingesetzt hat.
Mit-Kandidat Leung Chun-ying hat sich zwar auch um Hongkong verdient gemacht – er hat unter anderem Hongkongs Grundgesetz, die Basic Law mitverfasst – und gilt ebenfalls als patriotisch und kompetent. Allerdings hat er in der Exekutive ungleich Tang keine Erfahrung. Vor allem aber wird ihm in Business- und Finanzkreisen misstraut. Zwar ist er nicht unpopulär, aber dem Rivalen Tang kann er nicht das Wasser reichen.
… stolpert über Skandale
Und dann der Skandal mit anschliessender, öffentlich ausgetragener Schlammschlacht. Henry Tang musste Stellung nehmen zu ausserehelichen Affären, zum Gerücht eines illegitimen Kindes, zur illegalen Erweiterung einer seiner Villen und zu Kontakten zu Triaden, dem organisierten Verbrechen. Tangs Frau stand fest zu ihrem Mann. Was die illegale Konstruktion an einer seiner Villen betrifft, spielte Tang den Unwissenden und wälzte alles auf seine Frau ab, die das dann auch noch akzeptierte. Die Triaden-Gerüchte blieben Gerüchte. Nach der Schlammschlacht sank Tangs Popularität in den Keller.
Auch Kandidat Leung Chun-yings Integrität ist nicht über alle Zweifel erhaben, doch Substantielles konnten weder recherchierende Journalisten noch die nach dem Tang-Skandal wild brodelnde Gerüchteküche ans Tageslicht fördern. Leungs Chancen standen plötzlich gut.
Bewegung „hinter dem Vorhang“
Lange Zeit hat die Pekinger Zentrale, welche die Sonderverwaltungs-Region Hongkong seit der „Rückkehr ins Mutterland“ 1997 nach dem Prinzip „Ein Land – Zwei Systeme“ regiert, weder für Tang noch für Leung öffentlich Präferenzen geäussert. Nach dem Tang-Skandal jedoch scheint sich - gut chinesisch - „hinter dem Vorhang“, etwas zu bewegen. Fleissige Hongkonger Zeitungsleser jedenfalls wollen festgestellt haben, dass die beiden China-loyalen Tageszeitung Wen Wei Po und Ta Kung Pao das Gewicht in der Wahlkampfberichterstattung leicht zugunsten von Leung verlagert haben. Ein klares Indiz, dass Peking entschieden hat. Wie die Wahlmänner stimmen werden, bleibt abzuwarten. Doch Leung ist nach Einschätzung aller Beobachter der Favorit.
Mit etwas politischer Phantasie kann das Hongkonger Modell auch als so etwas wie ein chinesisches Versuchslabor für wirtschaftliche und politische Reformen interpretiert werden. Bereits jetzt ist Hongkongs Wachstum Konsum orientiert und von Dienstleistungen geprägt, etwas, was die Volksrepublik in den nächsten zehn Jahren vermehrt anstrebt. Weg vom einseitig Export-orientierten und von Ausland-Investionen abhängigen Wachstumsmodell hin zu mehr Inland-Nachfrage – dies hat Premier Wen Jiabao kürzlich am Nationalen Volkskongress (Parlament) in den Mittelpunkt gestellt. Auch politische Reformen hat Wen eindringlich angemahnt. Ob sie allerdings so weit gehen sollen, wie in Hongkong für die nächsten Chief-Exec-Wahlen 2017 - eine Stimme für alle – bleibe dahingstellt.
Wirkliche Wahlen lassen auf sich warten
Im real existierenden Hongkong 2012 jedenfalls geht es weniger darum, ob Kandidat Tang oder Kandidat Leung besser und fähiger ist. In erster Linie müssen die 0,01 Prozent der Hongkonger Bevölkerung, also die 1200 Wähler entscheiden, wer integrer und glaubwürdiger ist. Erst danach kann das ob der Wahl-Schlammschlacht frustrierte Hongkonger Volk davon träumen, eventuell in fünf Jahren an der Wahlurne einen wahren Volksentscheid zu treffen.