Für Sportsfreunde und darüber hinaus sind sie bekannt und allgegenwärtig, Namen nämlich wie Jesse Owens, Pele, Tiger Woods, Carl Lewis, Usain Bolt, Lance Armstrong, Diego Maradona, David Beckham, Lionel Messi, Michael Jordan sowie die Nadals und Djokovics dieser Welt, von Roger Federer ganz zu schweigen. Doch wer ist Sachin Ramesh Tendulkar? Nie gehört?
Kein Wunder, denn Tendulkar spieltCricket. Zwar nicht gerade eine Randsportart, aber dennoch nur in Ländern des britischen Commonwealth verbreitet. Das hat historische Wurzeln. Die britischen Imperial-Kolonialisten brachten im 19. Jahrhundert das ziemlich elitäre Spiel in den indischen Subkontinent, selbstverständlich auch in ihre Kolonien nach Südafrika, Australien, Neuseeland und die West Indies in der Karibik.Cricket ist deshalb heute in diesen Regionen der alles beherrschende Nationalsport. Schüler beispielsweise spielen auf dem Pausenhof nicht Fussball sondern eben Cricket.
Baseball mit Valium
Cricket ist – für den sportlichen Normalverbraucher in Europa jedenfalls – ein sehr komplexes Spiel ist. Neulich in Indien haben mich meine Freunde zu zwei ellenlangen Spiele in Delhi eingeladen. Wenn die Zuschauer begeistert die Arme hochrissen – wie nach einem europäischen Fussball-Tor – blieb ich ahnungslos sitzen, weil ich partout nichts Aufregendes gesehen habe. Aber eben, das Spiel ist kompliziert und noch schwieriger zu verstehen, als der dem Cricket verwandte amerikanische Baseball. Vor zwanzig Jahren hatte mir der berühmte Carl Ripken – was, den kennen Sie nicht! – bei einem Trainingsbesuch bei den Baltimore Oriols ins Reporternotizbuch folgende markante Worte diktiert: „Cricket ist wie Baseball, aber mit Valium“.
Wie dem auch sei, beim Match in Delhi fragten mich meine indischen Sportsfreunde, ob ich denn die wichtigste Nachricht schon gehört habe. Nein, habe ich nicht. Es war diesmal an den Indern, den Kopf zu schütteln. Die Nachricht: Sachin Tendulkar, Schlagmann aus Mumbai, Held der Nationalmannschaft, eine indische Legende, ja ein Halbgott tritt nach 24 Jahren zurück. Indien von den Dalit, den Unberührbaren, bis hinauf zu den Brahmanen im Regierungsviertel waren profund schockiert. Cricket war zur Kolonialzeit und ist noch heute eine der wenigen Bereiche, wo sich Jung und Alt, Reich und Arm, Hindus und Moslems einig in der Begeisterung fürs Spiel sind.
Knirps mit Lockenkopf
Der kleine Lockenkopf Tendulkar war ein Wunderkind. Als 15 Jahre alter Knirps begann er 1988 professionell als Schlagmann oder Schläger (batman) in seiner Heimatstadt Mumbai, die damals noch Bombay hiess. 199 Mal schlug er seither fürs Nationalteam. Das 200. und letzte – Test-Series genannt – steht am 23. November in Kolkata und Mumbai bevor. Es wird die Abschiedsvorstellung sein. Karten für die 66‘000 Zuschauer fassende Arena in Kolkata und das 32‘000 Zuschauer fassende Stadion in Mumbai sind für Normalsterbliche ausser Reichweite. Club-Mitglieder, Sponsoren, Regierungsvertreter und assortierte Einflussreiche haben Vorrang. Für beide Veranstaltungen bleiben gerade einmal 8‘000 Karten im freien Internet-Verkauf übrig. Hunderte von Millionen aber werden gebannt vor den Fernsehschirmen sitzen.
Tendulkar brach während fast eines Vierteljahrhunderts alle Cricket-Rekorde. Für Kenner: in seiner Test-Series-Karriere erzielte er in 199 Begegnungen 15‘837 runs, 248 not out highest score, 53.86 average, 51 centuries und 6750s. Alles klar? Komplex eben. Einfacher ausgedrückt: „Seine schnelle, einfach Beinarbeit und seine perfekte Balance“, lobt der ehemalige australische Cricket-Profi Mark Ray, „sind phänomenal“.
Symbol in Zeiten des Umbruchs
Doch Sachin Tendulkar war mehr als nur ein professioneller Sportsman. Er wurde in einer für Indien schwierigen Umbruchszeit zum Symbol. Der Cricket-Gott begann seine Karriere zu einer Zeit, als die Wirtschaft des Landes noch wenig entwickelt und die Armut noch grösser war als heute. Das Brutto-Inlandprodukt hat sich in den vergangenen 25 Jahren versechsfacht. Als Tendulkar 1988 zum ersten Mal als Batman zuschlug, lebten rund 800 Millionen Menschen in Indien, heute sind es 1,2 Milliarden. Nur zwanzig Millionen Haushalte hatten zu Beginn seiner Karriere einen Fernsehapparat. Heute sind es fast zehn Mal mehr. Wovon andere Weltsportler nur träumen können: wenn Tendulkar schlägt, gucken hunderte von Millionen von Indern in die Fernsehröhre. Nicht selten kommt deswegen die eh schon prekäre Stromversorgung Indiens fast zum Erliegen.
Schon in den 1990er-Jahren zu Beginn der Wirtschaftsreformen war Tendulkar berühmt. Er „ist das Gesicht des modernen Indiens“ und wurde so „zu einem nationalen Monument und zum Inspirator einer ganzen Generation“, wie der indische Journalist Man Ranjith in einer Würdigung schrieb. „Die Hoffnungen von mehr als einer Millarde Indern lagen auf seinen Schultern“, stellt die Tageszeitung „The Hindustan Times“ fest. „Er war mit seinen Erfolgen“, kommentierte zum Abschied Shishir Hattangadi, der frühere Captain des MumbaiCricket Teams, „die Entschuldigung dafür, dass viele die drückenden Sorgen des indischen, oft dunklen Alltags für kurze Zeit verdrängen konnten“.
Während seiner langen Karriere hat Tendulkar sich ein Vermögen verdient und gehört heute zu den reichsten Sportlern der Welt. Doch er ist sich selbst geblieben. Für den gläubigen Hindu ist die Familie alles. „Er ist ein Beispiel für Bescheidenheit und Höflichkeit“, urteilt die „Indian Times“. Cricket hat in Indien viel mit Nationaler Befindlichkeit zu tun. Mit Sachin Ramesh Tendulkar geht eine Aera zu Ende. Die Inder werden Tendulkar schmerzlich vermissen.