Als ob es in der Welt keine akuteren Probleme gäbe, haben Schlagzeilen über Interna und Intrigen in den Medien auch hierzulande wieder einmal hohe Konjunktur. Der Medienprofi Roger Schawinski hinterfragt in seinem neuen Buch die Vorwürfe, die die frühere Redaktorin beim Tages-Anzeiger-«Magazin», Anuschka Roshani, im «Spiegel» gegen ihren Chef Finn Canonica ausgebreitet hat. Einige der ausgeleuchteten Zusammenhänge sind nicht schmeichelhaft für die Anklageseite.
Genau genommen sind es zwei Affären oder Skandale, die Schawinski in seinem im Eigenverlag erschienenen Buch «Anuschka und Finn» seziert. Zum einen geht es um den Inhalt und die Glaubwürdigkeit der von Roshani erhobenen Anklagen gegen ihren früheren Chef. Zum andern geht es um die Motive und Rechtfertigungen, die der «Spiegel» zur Begründung für die prominente Publikation von Roshanis furioser Breitseite gegen ihren früheren Chef und ihren langjährigen Arbeitgeber geltend macht. Diese beiden Komplexe sind eng miteinander verflochten.
«Der Spiegel bastelt sich einen Weinstein»
Der «Spiegel» und seine «Gastautorin» aus der Schweiz stellen beide einen direkten Zusammenhang zwischen der Roshani-Anklage und dem Skandal um den Film-Mogul Harvey Weinstein her, der 2020 in Los Angeles wegen gewalttätiger sexueller Übergriffe gegen zahlreiche Frauen zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch sie sei, wie die von Weinstein missbrauchten Frauen, Opfer eines solchen «Machtmissbrauchs» geworden, schreibt die Journalistin im «Spiegel», obwohl unter ihren Vorwürfen kein einziges Wort über körperliche Annäherungsversuche oder gar Gewalt zu finden ist. Der «Spiegel» beteiligt sich an dieser durchsichtigen Weinstein-Dramatisierung, indem er in seiner Online-Version ein Bild des verurteilten Medien-Moguls in die Roshani-Erzählung über ihre Jahre als «Magazin»-Mitarbeiterin einfügt.
Mit gutem Grund hatte deshalb die NZZ einen Bericht über diese zweifelhafte Enthüllungsgeschichte mit dem Titel «Der Spiegel bastelt sich einen Weinstein» überschrieben. Noch genauer hätte die Formulierung eigentlich lauten müssen: «Roshani bastelt sich einen Weinstein», denn es war ja die Journalistin selber, die zuerst und explizit diesen Hype konstruiert hatte.
Vertieft mit dieser Affäre auseinandergesetzt hat sich Schawinski, nachdem er auf seine Anfrage hin unerwartet einen Stoss von Seiten aus einem Untersuchungsbericht der Anwaltskanzlei Rudin-Cantieni über die Vorgänge in der «Magazin»-Redaktion in die Hände bekam. Diesen Bericht hatte der TA-Verlag in Auftrag gegeben. Der Text in diesen Papieren war optisch kaum lesbar, doch einem Techniker gelang es mühelos, den Inhalt auf dem Computerschirm erkennbar zu machen. Klar wird in Schawinskis Buch nicht, weshalb ihm diese Papiere aus der Anwaltskanzlei zugespielt wurden und ob er schliesslich den ganzen Bericht lesen konnte, der um die 230 Seiten umfassen soll. Merkwürdigerweise wurde dieser Anwaltsbericht den beiden Protagonisten der Redaktionsaffäre, Roshani und ihrem langjährigen Chef Canonica, nie gezeigt. Hätten sie dessen Inhalt gekannt, hätte es sich möglicherweise die Anklägerin Roshani gründlicher überlegt, ob sie ihre MeToo-Story tatsächlich im «Spiegel» publizieren sollte.
Die Kollegin will Chefin werden
Denn aus dem Untersuchungsbericht der Anwaltskanzlei geht nach Schawinskis Darstellung deutlich hervor, dass manche Vorwürfe der Journalistin nicht glaubhaft zu belegen sind oder zumindest höchst zweifelhaft bleiben. Der wohl stärkste Einwand gegen die Seriosität ihres Klageregisters ist die in dem Untersuchungsbericht angeführte Tatsache, dass Roshani in einem Brief vom 19. November 2020 an den TA-Verleger Pietro Supino sich ausdrücklich als Chefredaktorin des «Magazins» bewarb, und zwar hinter dem Rücken des langjährigen bisherigen Chefs Finn Canonica. In ihrem «Spiegel»-Gastbeitrag wird dieser alles andere als loyale oder kollegiale Vorstoss geflissentlich unterschlagen. Hingegen schreibt sie dort mit Pathos, sie habe «rund 14 Jahre versucht, Canonica zu entkommen» und habe sich dabei mit verschiedenen Strategien in diesen Jahren nicht weniger als «sechs Lungenentzündungen eingehandelt».
Der angegriffene Chefredaktor stellt das Verhältnis und die Zusammenarbeit mit der anklagenden Kollegin in einem Radio-Interview mit Schawinski natürlich völlig anders dar. Sie hatten gemeinsame Reisen unternommen und zusammen Reportagen geschrieben, zumindest zeitweise auch normale, freundschaftliche Mails ausgetauscht, die in Schawinskis Buch im Wortlaut wiedergegeben werden. Gegenüber einem früheren TA-Journalisten hatte sie vor einigen Jahren, als Canonica bereits ihr Chef war, schriftlich festgehalten, als «Magazin»-Redaktorin sei man auf der «privilegierten Seite». Schawinski fragt dazu, weshalb es Roshani als selbstbewusster Frau denn nicht gelungen sei, dieser «Gefangenschaft» in einer Redaktion zu entkommen, die angeblich von Mobbing-Praktiken und Sexismus-Sprüchen eines selbstherrlichen Chefs dominiert war. Zweifellos, meint der Autor, hätte sie das «jederzeit tun können, ohne in existentielle Probleme zu geraten».
Welche Zustände und persönlichen Beziehungen während Canonicas Amtszeit in der «Magazin»-Redaktion wirklich geherrscht haben, das bleibt höchst widersprüchlich und vermag auch Schawinskis Buch nicht eindeutig auszuleuchten. Einerseits gab es vor allem in den frühen Jahren von Canonicas Regime offenkundig starke Spannungen und Unverträglichkeiten, denn mehrere der damaligen Mitarbeiter haben damals die Redaktion verlassen und einige unter ihnen arbeiten inzwischen für die NZZ. Über die genauen Gründe für ihren Absprung wollte aber keiner dem Buchautor Auskunft geben. Schawinski spricht in diesem Zusammenhang von einer Schweige- oder Omertà-Haltung.
Diese führt er hauptsächlich darauf zurück, dass die meisten «Magazin»-Redaktoren zugleich Autoren im Buchverlag Kein & Aber sind, der von Roshanis Ehemann Peter Haag geleitet wird. Doch im Rahmen einer Recherche der Branchen-Zeitung «Schweizer Journalist:in» waren die heute tätigen «Magazin»-Mitarbeiter bereit, sich über das Redaktionsklima zu äussern – allerdings nur unter strikter Anonymität. Alle Befragten hätten unabhängig voneinander verneint, dass sie diese Verhältnisse als «belastend, sexistisch oder toxisch empfunden» hätten, wie es Roshani in ihrem «Spiegel-Bericht» behauptet.
Der Buchautor und seine Verlags-Beteiligung
In einem Kapitel seines Buches berichtet Schawinski ausführlich über seine Beziehungen mit Roshanis Mann, dem Verleger Peter Haag. In den Nuller-Jahren war der Medienprofi bei dessen Kein & Aber-Verlag mit einer Aktien-Beteiligung von 40 Prozent im Wert von 1,8 Millionen Franken eingestiegen. Das Geld war im Verlag in Kürze durch anstehende Schulden weggeschmolzen. Nach sieben Jahren Im Verwaltungsrat und einer im Ganzen unerfreulichen Zusammenarbeit stieg Schawinski wieder aus und verkaufte seine Beteiligung für einen Bruchteil der investierten Summe an den Verleger.
Warum erzählt Schawinski diese für ihn unrühmliche Geschichte? Es gehe um Transparenz über seine Stellung als Autor dieser Medien-Recherche, schreibt er. Dabei sei ihm bewusst, dass er damit den Vorwurf in Kauf nehme, sich mit dieser kritischen Untersuchung über Roshanis MeToo-Klage im «Spiegel» für seine Unbill mit dem Verleger Haag, der übrigens bei den redaktionsinternen Feldzügen seiner Frau teilweise mitgemischt hat, zu rächen. Hätte Schawinski jedoch diese Beziehung ausgeblendet, wäre der Verdacht umso lauter erschallt, er verschleiere bewusst seine persönlichen Nebenverbindungen mit dieser Affäre.
Einleuchtend ist für mich vielmehr Schawinskis Argument, ihm gehe es mit seinem Bericht wesentlich auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der Tendenz, solche MeToo-Berichte über Missbrauch und Diskriminierungen von Frauen, wie sie im Gefolge des Weinstein-Skandals ins Rollen kamen, in den Medien sofort in ein polarisierendes Schwarz-Weiss-Schema zu pressen: Die Frau ist das Opfer, der Mann der Täter. Wer dieses Muster in bestimmten konkreten Fällen anzweifle, werde schnell gecancelt oder zur Zielscheibe von Shitstorms. Oder umgekehrt die Reaktion unter rechtsreaktionären Aktivisten, die rassistische oder sexistische Vorwürfe reflexartig als Auswüchse einer perversen Woke- und Cancel-Hysterie anprangern.
Eine Gegenansicht zur «Spiegel»-Story
Gegen Schawinskis «Anuschka-Finn»-Buch ist inzwischen auch der Einwand erhoben worden, er ergreife selbst Partei in dieser Causa und mache den früheren «Magazin»-Chefredaktor Canonica einseitig zum Opfer seiner früheren Kollegin. Der Autor mag tatsächlich nicht eindeutig neutral berichten. Canonicas Sicht der Dinge wird viel Raum eingeräumt. Ein Unschuldslamm ist dieser auf seinem Chefposten sicher nicht gewesen. Das zeigen schon seine durchaus nicht komischen Hakenkreuz-Kritzeleien auf Manuskripten seiner Autoren. Auch die auffallend vielen Absprünge oder Entlassungen qualifizierter Mitarbeiter deuten nicht auf ein kollegiales Redaktionsklima. Aber wie hätte Schawinski seine Darstellung besser ausbalancieren können, wenn die Anklägerin Roshani alle Anfragen für ein Gespräch ablehnt?
Hingegen ist es zweifellos ein Verdienst des Autors, mit der Veröffentlichung von Indizien und fragwürdigen Behauptungen, die Roshani im Rudin-Cantieni-Bericht belasten, die Glaubwürdigkeit ihrer Vorwürfe im «Spiegel» erheblich in Zweifel zu ziehen – auch wenn wichtige Fragen zu diesem Bericht nicht geklärt sind. Jedenfalls kann man nach der Lektüre des Schawinski-Buches mit gutem Grund zur Erkenntnis gelangen, dass die ganze Affäre ungleich komplexer, widersprüchlicher und intriganter zu beurteilen ist, als wenn man nur Roshanis MeToo-Story im «grössten Magazin Europas» gelesen hat. Diese flüssig geschriebene, in wenigen Wochen vollbrachte journalistische Leistung des Medienpioniers mit Jahrgang 1945 verdient Respekt.
Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit dieser Affäre schliesslich Schawinskis eigene Ernüchterung über sein langjähriges Vorbild «Der Spiegel», dem er zugegebenermassen jahrzehntelang als Medien-Idol «verfallen» war. Nicht erst seit dem Relotius-Skandal um gefälschte Stories eines vielgepriesenen Autors konnte man wissen, dass auf die Seriosität des deutschen Wochenmagazin nicht immer Verlass ist. Der «Spiegel» behauptete bei der Veröffentlichung von Roshanis Anklage gegen den «Magazin»-Chefredaktor und den TA-Verlag in einer separaten Anmerkung, man habe den Inhalt des Gastbeitrages selbstverständlich überprüft. Man verfüge über entsprechende Aussagen ehemaliger und aktueller Mitglieder des «Magazin»-Teams. Doch eine Recherche unter den heutigen «Magazin»-Redaktoren ergab klar, dass keiner von ihnen vom «Spiegel» kontaktiert wurde.
Die Prozesslawine rollt
Im Übrigen ist zu dieser trüben Intrigen-Geschichte das letzte Wort noch längst nicht gesprochen. Die Protagonisten der neu aufgekochten Affäre, Roshani und Canonica, sind schon im letzten Jahr vom «Tages-Anzeiger»-Verlag entlassen worden. Roshani hat dagegen geklagt. Canonica hat gegen den «Spiegel» geklagt. Der «Tages-Anzeiger» hat inzwischen sowohl gegen Roshani als auch gegen den «Spiegel» geklagt. Das Landgericht Hamburg hat verfügt, dass der «Spiegel» neun Passagen in Roshanis Gastbeitrag kürzen muss, wogegen dieser wiederum Einspruch erhob.
Bis all diese Gerichtsfälle entschieden sind, wird noch viel Wasser die Limmat und die Elbe hinunterfliessen. Vielleicht hätten sich die Initianten dieser Prozesslawine, die MeToo-Autorin und der nach süffigen Skandal-Stories lechzende «Spiegel», die Sache besser überlegen sollen.
Roger Schawinski: Anuschka und Finn. Verlag Radio 1, Zürich 2023
Zur Transparenz: Der Verfasser dieser Besprechung ist mit dem Buchautor befreundet.