Das Moskauer Stadtgericht hat am Dienstag geliefert, was Putin anordnete. Der russische Oppositionsführer Alexei Nawalny ist zu einer Gefängnis- oder Lagerhaft von rund drei Jahren verurteilt worden. Der ganze Prozess war für jeden halbwegs klar denkenden Beobachter eine durchsichtige Farce.
Nawalny zum Märtyrer machen
Nawalny soll die Auflage eines vor sieben Jahren gegen ihn bedingt verhängten Urteils nicht erfüllt haben. Wie aber soll er sich bei den Behörden ordnungsgemäss melden können, wenn er sich wegen eines Giftanschlages – den gemäss gewichtiger Indizien notabene Agenten der eigenen Regierung verübt haben – im Ausland zur Pflege und Rekonvaleszenz aufhielt? Ausserdem beruhte die Verurteilung Nawalnys im Jahre 2014 laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf einer «willkürlichen und konstruierten» Anklage. Die russische Regierung hat dieses Verdikt anerkannt und soll Nawalny eine Kompensation von über 60´000 Euro überwiesen haben.
Man fragt sich, was Putin mit dieser neuen Verurteilung seines furchtlosen Herausforderers wohl kalkuliert. Glaubt er im Ernst, dass er mit dem Wegsperren Nawalnys dessen Video-Enthüllungen über die korrupten Praktiken im Kreml-Umfeld und die Empörung seiner Anhänger im ganzen Land nachhaltig abwürgen kann?
Befördert er den Oppositionsführer damit nicht zum Märtyrer, der die Mächtigen im Kreml derart verunsichert, dass sie fast jeden Anschein eines Rechtsstaates fallen lassen? Vertraut er darauf, dass rücksichtslose Polizei-Repression und juristische Manipulation nach dem Muster seines belarussischen Nachbarn Lukaschenko ihm auch auf lange Sicht die unumschränkte Macht sichern werden?
Umstrittene zweite Gaspipeline
Man würde dem 68-jährigen Kremlboss, der seit über 20 Jahren das russische Riesenreich nicht ohne Erfolge regiert, eigentlich etwas reifere und raffiniertere Reaktionen auf eine oppositionelle Herausforderung à la Nawalny zutrauen als seinem Gesinnungsgenossen in Minsk.
Zu fragen bleibt auch, ob Putin die Risiken miteingerechnet hat, die sein verschärftes Gewaltregiment für das umstrittene Gaspipeline-Projekt Nordstream 2 bedeuten könnte. Dieses Grossunternehmen soll mit einer zweite Rohrleitung durch die Ostsee russisches Erdgas direkt nach Deutschland und von dort in andere westliche Länder leiten. Damit würde das Potential russischer Erdgaslieferungen nach Europa verdoppelt. Finanziert wird das Projekt, das kurz vor der Fertigstellung steht, durch die russische Gazprom und eine Reihe von Energieunternehmen aus Deutschland und anderen europäischen Staaten.
Gegen Nordstream 2, das vom früheren deutschen Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder präsidiert wird, werden von verschiedener Seite kritische Einwände erhoben. Polen und Ukraine sind dagegen, weil sie mit weniger Einnahmen aus bestehenden Transit-Leitungen rechnen müssen. Auch die Ostsee-Anrainer im Baltikum und in Skandinavien haben Kritik gegen das neue Röhrensystem auf dem Meeresboden angemeldet.
Washington wiederum droht mit Boykottmassnahmen gegen die Betreiber- und Lieferfirmen. Nach amerikanischer Lesart würde die Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas durch Nordstream 2 gefährlich verstärkt. Diesen letzteren Einwand parieren die Pipeline-Befürworter mit dem Argument, den USA ginge es in erster Linie darum, die russische Konkurrenz auf dem Erdgasmarkt einzudämmen, um das eigene Fracking-Gas besser verkaufen zu können.
In jüngster Zeit wird im Zusammenhang mit der scharfen Repression Moskaus gegen die Nawalny-Bewegung und deren Video-Enthüllungen über die Paläste der Kreml-Kamarilla nun auch in Deutschland die Kritik an Nordstream 2 immer lauter. In dieser Woche hiess es in einem Leitartikel des «Spiegel», das ganze Unternehmen sei eigentlich «ein Projekt gegen Europa», von dem sich inzwischen auch der EU-Partner Frankreich distanziere. Deshalb sei es dringend notwendig, dass Bundeskanzlerin Merkel für den Abbruch der ganzen Übung sorge. Die notwendigen Kosten und Entschädigungen für einen solchen Entscheid müsse man in Kauf nehmen.
Merkels Dilemma
Angela Merkel kann man zutrauen, dass sie in dieser heiklen Frage keine überstürzte Entscheidungen fällen wird. Sie wird die verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Argumente zweifellos gebührend gegeneinander abwägen. Unter allen Politikern im Westen kennt Merkel Wladimir Putin am besten. Über die Art seines Regimes gibt sie sich, anders als ihr Amtsvorgänger Schröder, keinen Illusionen hin. Sie war die treibende Kraft für das Zustandekommen westlicher Sanktionen gegen die russische Annexion der Krim und sie hat den Giftanschlag gegen Nawalny am deutlichsten kritisiert. Sie kennt auch die Argumente von EU-Partnern gegen die zusätzliche Gas-Röhre durch die Ostsee. Wenn die Kanzlerin sich bisher trotzdem für die Fertigstellung des Projekts eingesetzt hat, so hat das begreiflicherweise mit deutschen Wirtschaftsinteressen zu tun. Aber auch mit ihrer grundsätzlichen Ansicht, dass die Verbindungen und der Austausch zwischen dem Westen und Russland im Interesse beider Seiten nicht vernachlässigt oder gar kompromisslos gekappt werden sollten.
Gegen das Dilemma einer definitiven Pro- oder Kontra-Entscheidung in Sachen Nordstream 2 ist aber durchaus auch eine dritte Variante denkbar. Die Bundeskanzlerin könnte sich für eine vorläufige Blockierung des Projekts engagieren und dessen Fertigstellung von den weiteren Entwicklungen in der Causa Nawalny und anderen russischen Menschenrechtsfragen abhängig machen. Dass Merkel ein solches Vorgehen sowohl in der eigenen Koalitionsregierung als auch unter den EU-Partnern durchbringen würde, ist kaum zweifelhaft.
Putins Risiko
Putin wäre die Blockade dieses milliardenschweren Exportprojekts mit Sicherheit nicht gleichgültig. Die Aussicht, die von gewichtigen Stimmen im Westen geforderte Beerdigung von Nordstream 2 zu verhindern oder eine vorläufige Einfrierung aufzulösen, könnte ihn vielleicht zur Einsicht bringen, dass etwas mehr Flexibilität und weniger rechtstaatliche Willkür gegenüber oppositionellen Bewegungen wie Nawalny und seinen Anhängern auch seiner eigenen Glaubwürdigkeit nützlich sein könnte – nach innen und nach aussen.
Je weniger Putin zu solchen Mässigungen seiner zunehmend autokratischen und rechtlosen Herrschaftsmethoden bereit ist, desto höher wird für ihn das Risiko, dem für Russland besonders bedeutungsvollen Nordstream 2-Projekt ein politisches Grab zu schaufeln.