Schon seit vier Jahren ist das Weltfinanzzentrum – wegen seiner Form im Volksmund „Flaschenöffner“ genannt – mit 492 Metern das höchste Gebäude Chinas. Ein Herausforderer ist nicht in Sicht. Zwar wird in ganz Schanghai weiterhin fleissig gebaut, doch die Stadtregierung setzt jetzt auf „menschliche Dimensionen“. Mitte Mai beschloss sie, 3500 Quadratmeter Boden für Parks und Wälder zu reservieren. Ihr Ziel ist es, mehr als die Hälfte des Stadtgebiets als „ökologische Räume“ zu gestalten.
Schanghai war schon immer Chinas Tor zur Welt und die offenste chinesische Stadt. Die Kolonialmächte bauten in ihren „Konzessionen“ nach westlichem Stil der Epoche, was heute den besonderen Charme der 25-Millionen-Stadt ausmacht. Mich zog Schanghai in den Bann, als ich 2004 anlässlich einer China-Reportage Gespräche mit führenden Lokalpolitikern führte. Seither fliege ich mindestens einmal im Jahr in diese Stadt, die sich rasant entwickelt und dennoch nicht ihre Seele verloren hat.
"Best German Taste"
Die schleichende Verwestlichung der Geschäftsmetropole ist unübersehbar. McDonald’s, Burger King, Kentucky Fried Chicken und Starbucks haben die Stadt wie ein Tsunami überschwemmt. Als die ersten Starbucks in Schanghai aufmachten, blieben sie zunächst leer. Kaffee war in China ein weitgehend unbekanntes Gebräu, der Preis ab fünf Franken für einen Becher in Selbstbedienung eine Zumutung. Aber die Manager der US-Kette haben sich nicht verrechnet: Heute sind ihre Filialen zum Treffpunkt gut betuchter junger Leute geworden.
In meinem fast ausschliesslich von Chinesen frequentierten Stammhotel gab es für die wenigen Ausländer bis vor kurzem zum Frühstück nur Pulverkaffee in einem Wasserglas. Jetzt stehen eine Kaffeemaschine und Tassen auf dem Buffet. Untertassen und Löffel kommen wohl demnächst dazu. Eines meiner Lieblingsrestaurants, in dem ich vor einem Jahr noch schmackhaften Aal verzehrte, ist ein „Mr. Pizza“ geworden. Eine neue Döner-Bude verspricht „Best German Taste“.
In der U-Bahn, die in Schanghai Metro heisst, fummeln alle Fahrgäste, ob jung oder alt, sitzend oder stehend, an ihren Handys herum. Wer nicht mittut, wird wohl als ein Aussenseiter betrachtet. Was für ein Niedergang einer 5000 Jahre alten Hochkultur!
Enge, feuchte Armenviertel
Glücklicherweise lesen und schreiben die Chinesen immer noch. In der Fuzhou-Strasse dominieren weiterhin die Buchhandlungen, Schreibwarengeschäfte und Kunstgalerien. Wie in den westlichen Grossstädten wurde auch dort am 14. Mai das jüngste Werk des Bestsellerautors Dan Brown, „Inferno“, mit viel Werbeaufwand lanciert. Wichtig ist, dass noch nicht alle Arterien Schanghais von den Multis der Bekleidungs- und Elektronikindustrie vereinnahmt sind.
Es ist auch nicht so, dass der Kapitalismus unter kommunistischer Fahne die chinesische Gesellschaft völlig destabilisiert hätte. Nur wenige Schritte abseits der prächtigen Fussgängerzone der Nanjing Lu bestehen die traditionellen Häuserblöcke weiter, die in Schanghai „Longtang“ genannt werden. Es sind Ziegelbauten, um die hundert Jahre alt, im Schachbrettmuster angelegt, mit kleinen Innenhöfen. Der Strasse zugewandt haben die Schlosser, Elektriker, Installateure und andere Handwerker ihre Ateliers eingerichtet. Aber die Jungen wollen nicht mehr in den „Longtang“ leben, denn diese Armenviertel sind eng, finster, feucht und unhygienisch.
Neubauten bis weit aufs Land hinaus
Die Behörden sind bei der Modernisierung Schanghais mit den „Longtang“ recht behutsam umgegangen. Sie stehen vor dem gleichen Dilemma wie der einstige Präfekt von Paris, Baron Haussmann, als er 1853-70 das historische Zentrum der französischen Hauptstadt zugunsten breiter Boulevards zerstörte. In Schanghai soll demnächst einer der grössten „Longtang“ von über 40.000 Quadratmeter Ausdehnung Bürotürmen und Einkaufszentren Platz machen. Von den 10.851 registrierten Einwohnern waren nach offizieller Darstellung 85 Prozent freiwillig bereit, in andere Wohnungen umzuziehen. Der Rest wird wohl den Planierraupen weichen müssen.
Die starke Nachfrage auf dem Wohnungsmarks hat in ganz China zu Preissteigerungen geführt, vor allem in Schanghai, wo dieses Jahr mit einer Verteuerung der Immobilien bis zu 20 Prozent gerechnet wird. Neubauten entstehen vorwiegend am Stadtrand bis weit aufs Land hinaus. An den Endstationen der Metrolinien verteilen Männer in dunklen Anzügen mit Krawatten Hochglanzprospekte, die für den Kauf von Eigentumswohnungen ab Plan werben.
Von Zauberhand in die Natur gesetzt
Auf der Bahnstrecke nach Nanking fährt man geraume Zeit an solchen Wohnsilos vorbei. Die Entfernung spielt aber keine grosse Rolle mehr, der Pendlerverkehr nimmt zu. Für die rund 300 Kilometer bis Nanking benötigte die Eisenbahn bis vor kurzem dreieinhalb Stunden. Jetzt schafft ein im 20-Minuten-Takt fahrender Hochgeschwindigkeitszug die Distanz in weniger als anderthalb Stunden. Am Fenster ziehen die Bilder des hochentwickelten Teils Chinas vorbei: Eine Hochhaussiedlung nach der anderen, oft mit Türmchen und anderem Schnickschnack verziert. Dazwischen moderne Autobahnen, Kanäle und neue Fabriken, später ausgedehnte Agrarbetriebe. Alles in Rekordzeit wie von Zauberhand in die Natur gesetzt.
Die Expansion Schanghais erfordert eine ständige Anpassung der Infrastrukturen. Auf dem Pudong International Airport, einem der beiden Flughäfen der Stadt, wird die Zahl der Plätze für parkende Flugzeuge von 218 auf 300 erhöht. Derzeit starten und landen in Pudong täglich 1117 Flugzeuge. 2012 wurden 44 Millionen Passagiere abgefertigt.
Spannungen zwischen Arm und Reich
Von der Kundenfreundlichkeit des Flughafens Pudong könnten sich andere eine Scheibe abschneiden. In den Gängen und Hallen stehen alle 50 Meter Automaten, aus denen man mit aseptischen Pappbechern gratis kaltes, warmes oder heisses Wasser abzapfen kann. Auf den europäischen Flughäfen werden seit dem Erlass des unsinnigen Verbots, im Handgepäck Flüssigkeiten mitzuführen, durstige Passagiere gezwungen, teure Getränke zu kaufen. Es gibt keine Wasserspender und in den Toiletten sind die Wasserhähne absichtlich so geformt, dass man nicht davon trinken kann.
Schanghai befindet sich auf dem Weg in die Post-Modernität. Die grössten Probleme sind die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung und die zunehmenden Spannungen zwischen Arm und Reich. Die Führung ist sich dieses Zündstoffs bewusst. Die soziologischen Wissenschaften haben in China einen hohen Stand erreicht und sind weltweit vernetzt. Doch wie lassen sich ihre Erkenntnisse in die Praxis umsetzen?
Fröhlich, laut, undiszipliniert
2004 sass ich mit einer internationalen Journalistengruppe bei einem offiziellen Dinner neben dem damaligen Parteichef von Schanghai, der eine Rolex aus massivem Gold am Handgelenk trug. Ich fragte ihn über den Dolmetscher, ob diese Zurschaustellung des Reichtums mit seinem Amt vereinbar sei. „Der Kommunismus hat nicht die Armut zum Ziel, sondern die gerechte Entlöhnung“, antwortete er. Zwei Jahr später las ich in der Zeitung, dass der Mann wegen Korruption zum Tode verurteilt wurde.
Wenn es in der chinesischen Gesellschaft brodelt, so merkt der ausländische Besucher nichts davon. Ins Auge springen hingegen der Optimismus der meisten Menschen und ihr Entfaltungsdrang. Bei meinen ersten Besuchen in Schanghai begannen einige Leute schüchtern, in der Fussgängerzone der Nanjing Lu zum Ton von Kassettenrecordern zu tanzen und zu singen. Heute findet jeden Abend und besonders an den Wochenenden ein improvisierter Massenspektakel statt. Die ganze Flaniermeile ist dann von Gruppen besetzt, die Tango, Walzer oder Rock’n’Roll tanzen, musizieren oder im Chor singen. Amateurdirigenten und Solosänger legen ihre ganze Seele in ihre Darbietungen, angefeuert vom Publikum. Es herrscht ein musikalisches Durcheinander wie im Wiener Prater.
Entgegen den von den einstigen Kolonialmächten propagierten Stereotypen, die in Europa noch heute weitgehend das Bild Chinas prägen, sind die Chinesen fröhlich, laut und völlig undiszipliniert. Zumindest in Schanghai haben die Menschen beschlossen, persönliche Freiräume zu erobern.