„IS-Milizen rücken auf Ölfelder in Libyen vor, warnt Frankreich.“ Das zumindest behauptet Spiegel-online, allerdings ohne näher zu erläutern, wer „Frankreich“ ist. Charlie Hebdo? Präsident Hollande? Monsieur Sarkozy? Marine le Pen? „In Libyen herrscht seit dem Sturz… Muammar al-Gaddafis 2011 Chaos“, berichten das online-Magazin sowie zahlreiche andere Medien. Das Land werde „beherrscht von Dutzenden bewaffneten Milizen, es gibt zwei rivalisierende Parlamente und Regierungen.“ Und nun bemüht sich „die internationale Gemeinschaft, die zahllosen rivalisierenden Parteien… zu einem Waffenstillstand und zu einer Regierung der nationalen Einheit zu drängen.“
Erneut präzisiert Spiegel-online nicht, wer diese in den Medien so gerne beschworene „internationale Gemeinschaft“ ist. Andere Afrikaner als Libyer sind nicht dabei. Asiaten, Inder, Chinesen? Auch sie zählen offenbar nicht dazu. Soweit erkennbar besteht „die internationale Gemeinschaft“ im Wesentlichen aus England, Frankreich, Italien, Deutschland und den USA, also aus ehemaligen Kolonialmächten.
Das Erbe der Kolonialpolitik
Diese haben vor hundert Jahren all die profitablen Gebiete Nordafrikas und des Nahen Ostens recht willkürlich untereinander aufgeteilt, wobei sie die existierenden ethnischen, religiösen oder geographischen Unterschiede arrogant ignorierten. Mit dicken Bleistiften zogen sie schnurgerade Linien auf den Landkarten, die heute noch jede Grenzfestlegungskommission vor große Herausforderungen stellen würden. Nicht selten entspricht die Breite der Bleistiftlinien in den ölreichen Wüstengebieten fünf, sechs, sieben oder gar mehr Kilometern.
Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik lautet und gilt auch für die Wahrscheinlichkeitsrechnung: „Der unwahrscheinliche Zustand hoher Ordnung, geht von selbst in den wahrscheinlicheren Zustand großer Unordnung über.“ Auf die Politik übertragen heißt das: Der einst von Paris, Rom, London und Berlin geschaffene Zustand einer kolonialen Ordnung löst sich auf. Die damals unterworfenen Völker schaffen sich nun ihre eigene Ordnung, die in den europäischen Hauptstädten natürlich als große Unordnung angesehen wird. Dieser Prozess ist derzeit vor allem im Irak, in Syrien und Libyen zu beobachten. Doch was im vormaligen Jugoslawien noch eifrig gefördert wurde, soll in den ölreichen Staaten des Maghreb und der Levante nun wohl mit allen Mitteln verhindert werden.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund
Dass sie dabei selbst das Feuer an die Lunte legten, wollen die Täter heute nicht mehr wahrhaben. Kurzerhand hatten die ehemaligen Kolonialmächte 2011 den eskalierenden Konflikt zwischen den Stämmen des einkommensschwachen Westens Libyens und jenen des ölreichen Ostens zu einem Aufstand gegen Gaddafi erklärt und beim Sturz kräftig nachgeholfen. Dabei akzeptierten sie durchaus auch den Beifall und gelegentlich sogar Unterstützung so seltsamer Alliierter wie die Muslimische Bruderschaft oder al-Qaeda. Aiman az-Zawahiri (damals noch Zweiter in der Hierarchie der Terrororganisation) persönlich hatte zum Kampf gegen Gaddafi aufgerufen. Al-Jama’a al-Islamiyyah al Muqatilah bi-Libya (JIML), die Libysche Islamische Kampfgruppe, die den Sturz des „blasphemischen“ Diktators zur “wichtigsten Pflicht nach dem Glauben an Gott” erklärt hatte, wollte den laizistischen Ölstaat in einen Gottesstaat verwandeln. Da erinnert das Verhalten des Westens fatal an Henry Kissingers zynische Realpolitik: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Den sogenannten Zerfall des Irak hatten die USA mit ihrem Krieg gegen Saddam Hussein 2003 selbst eingeleitet. Syrien sah sich schon mit Erlangung der Unabhängigkeit (1946) massiven Eingriffen aus Washington ausgesetzt. Zehn Jahre lang finanzierten und organisierten die USA zahlreiche Putsche und zerstörten jeden Ansatz demokratischer Entwicklungen. Mit dem Staatsstreich der Baath-Partei 1963 wurden demokratische Ideen zwar begraben, die Regierungen in Damaskus aber entzogen sich fortan zunehmend dem Einfluss Washingtons. Darum unterstützen die USA „die Opposition des Landes“, spätestens seit 2005 mit Finanzhilfen, Waffenlieferungen (darunter mit depleted uranium verstärkte PGU-14-Granaten) sowie mindestens 300 Nationalgardisten und Special Operations Forces, wobei die vielfachen ethnischen und religiösen Differenzen natürlich auch hier weitgehend unbeachtet bleiben.
Europas Charmeoffensive gegenüber Erdogan
Schamlos betreibt auch Europa solch zynische Realpolitik, wenn es den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdogan nun sogar zu Aufnahmeverhandlungen in die EU einlädt. Die Kritik an seiner Kurdenpolitik, an seiner zunehmenden Islamisierung der Türkei und Unterstützung der Verbände des Islamischen Staates, an der Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz, der Unterdrückung der Pressefreiheit, wo sogar der ironische Vergleich des Herrschers vom Bosporus mit einem Hobbit aus dem „Herrn der Ringe“ zu einer Beleidigungsklage führt, ist schnell vergessen, wenn er Europa nur die Flüchtlinge vom Leib hält.
„In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte. Es geht immer um die Interessen von Staaten.“ Das haben alle Politiker eingestanden, von Bismarck bis de Gaulle und von Henry Kissinger bis Egon Bahr. Demokratie und Menschenrechte taugen bestenfalls für Ehrungen. „Nächstenliebe ist die einzig mögliche Realpolitik“, glaubte vor beinahe einhundert Jahren der Polarforscher Fridtjof Nansen und erhielt dafür 1922 den Friedensnobelpreis: Er hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Versorgung und Aufnahme von Flüchtlingen organisiert.