Ärgern sich die SBB-Reisenden über Zugsverspätungen? Soweit es sich nur um Unvollkommenheiten handelt, wahrscheinlich weniger als CEO Andreas Meyer, dessen Bonus (zusätzlich zu seinem weit über der Entlöhnung der Bundesräte liegenden Gehalt) von der Pünktlichkeit der Züge abhängt. Es gehe um jede Sekunde, hat die SBB-Spitze kürzlich dem Personal geschrieben, worauf sich die Lokomotivführer als "Sündenböcke" für die Verspätungen fühlten.
Zu viele Störungen
Während sich die Zahl kleinerer Abweichungen in den letzten Jahren nur im Rahmen der üblichen Wellenbewegungen veränderte, sind die Fahrleitungs-, Weichen-, Signal-, Fahrzeug- und anderen Störungen der SBB viel zu zahlreich geworden. Teilweise aufgrund ungenügenden vorsorglichen Unterhalts fallen dadurch oft Strecken und Züge aus. Der Zentralbereich der Zürcher S-Bahn, der Raum Sissach–Tecknau und die Genfersee-Linie sind berüchtigt dafür. Dennoch haben die SBB bei der Beratung des 6,4-Milliarden-Ausbaus auf unabhängig geführte Strecken (Wisenbergtunnel und Roggwil–Altstetten statt Chestenberg- und Honerettunnel) keinen Wert gelegt.
Besonders weit von jeder Zuverlässigkeit und Regelmässigkeit entfernt ist der Verkehr Zürich–Mailand, wo praktisch kein Zug planmässig rollt. Entgegen den Verlautbarungen der SBB geht es dabei nicht um "Ereignisse im Ausland", sondern um die zu kurzen Wendezeiten an beiden Endpunkten und um ungepflegtes Rollmaterial. Bis die SBB ernsthaft reagierten, dauerte es Jahre.
Sicherheitsdefizit
Ebenso führungslos zeigen sich die SBB bei Unfällen. Noch an der Medienkonferenz nach dem schweren Zugszusammenstoss im Broye-Tal und einer Reihe vorangegangener Kollisionen behauptete CEO Andreas Meyer, die SBB hätten kein Sicherheitsproblem. Realisierend, dass die ganze Schweiz dies anders sieht, will er zur Verhinderung der Missachtung geschlossener Signale nun endlich doch den Einbau der Zugsicherung ZUB beschleunigen. Ohne diese oder eine gleichwertige Sicherung hätte das Vier-Augen-Prinzip (Zugsabfertigung durch Zugspersonal statt blinder Verlass auf die Unfehlbarkeit des Lokomotivführers) nicht abgeschafft werden dürfen. Trotz der bewusst in Kauf genommenen Sicherheitslücke wird auch im Fall Granges nur der Lokomotivführer gerichtlich verurteilt werden.
Die Schwerpunktverlagerung zum System ZUB muss auf Kosten der Einführung des European Train Control System (ETCS) Level 2 gehen. Dagegen sträubt sich die SBB-Spitze. Bisher war nicht klar geworden, ob das Bundesamt für Verkehr oder die SBB die über Funkverbindungen laufende, Signale erübrigende, in grösserem Ausmass aber für alle anderen Länder unerschwingliche Sicherung vorantreibt. Dabei soll die Schweiz eine Pionierrolle spielen. Der Vorgang erinnert fatal an die automatische Kupplung in Europa, die heute noch fehlt, obwohl die SBB mit erheblichem Aufwand selbst die zahlreichen, bis 1996 ausrangierten Ae-4/7-Lokomotiven noch dafür vorbereitet hatten.
Fachleute haben ans Licht gebracht, dass in grossen Bahnhöfen für das ETCS noch keine technische Lösung existiert. Das System ist auf der Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist und im Lötschberg-Basistunnel installiert. Inzwischen sind die Ausfälle mit Umleitungen über Burgdorf und Kandersteg zurückgegangen, aber nicht auf Null. Dass ETCS die Voraussetzung für Tempo 200 bilde, trifft nicht zu. Von Paris nach Toulouse und Bordeaux ist die SNCF durch blosse Zuschaltung eines weiteren Blockabschnitts schon ab 1967 unfallfrei teilweise mit dieser Geschwindigkeit gefahren.
Netzweit dringend
Jede ETCS-Störung ist ein Rückschritt gegenüber früher. Die SBB brauchen ein zuverlässiges und finanzierbares System. Nur einfache Technik bewährt sich im rauen Betrieb der Bahn. Dieser Forderung wird die vom Direktor des Bundesamtes für Verkehr empfohlene, vom Personal befürwortete Zugsicherung ZUB gerecht. Deren flächendeckende Verwirklichung innert nützlicher Frist durch die Umlagerung finanzieller Mittel und Einsparungen bei Unfällen ist möglich und im Interesse der Sicherheit dringend.