Sie erklären, die Ideologie der im Königreich als die offizielle Religionsausrichtung anerkannten „Wahhabiten“ entspreche sehr genau den Vorstellungen, welche die Ideologen des „Islamischen Staates“ predigen.
Wahhabitisch wird ihre Religionsrichtung von Aussenstehenden genannt. Sie selbst nennen sich „Vorkämpfer der Einheit“, was auf die Einheit und Einzigkeit Gottes abzielt. Die Kritiker des Königreiches verweisen darauf, dass die wahhabitische Doktrin durch saudische Finanzierung von Moscheen und Predigern weltweit verbreitet wurde, „von Helsinki über Genf bis nach Timbuktu“. Was ihre Grundideen islamweit ausgebreitet habe.
Die Lehre der Wahhabiten
Diese Grundvorstellungen sind: die Idee, dass ein wahrer Muslim dem Vorbild des Propheten und seiner Gefährten so genau wie möglich nachleben sollte; weiter die Ausschliesslichkeit des „Takfir“. Dies ist die Meinung, dass alle anderen, Muslime oder Ungläubige, die den „wahhabitischen“ Vorstellungen nicht folgen wollen, auszugrenzen seien als „keine wirklichen Muslime“ und dementsprechend behandelt werden müssten. Schliesslich das wortwörtliche Verständnis des Korans und der Überlieferung, ohne nach Auslegungen zu fragen.
Für Ibn Abdul Wahhab und seine damaligen Anhänger war in der Praxis das wichtigste, die damals sehr verbreitete Verehrung von Gräbern und dort beerdigten heiligen Männern, die oftmals Sufi (mystische) Heilige waren, zu beenden. Ihr Kult erschien ihm als ein Verstoss gegen die Einheit und Einzigkeit Gottes. Die Abneigung gegen Gräberverehrung ging so weit, dass die Wahhabiten sogar die Gräber von Genossen des Propheten und seiner Familienangehörigen und Nachfahren in Medina zerstörten, als sie die Stadt eroberten.
In der Tat findet man diese Grundvorstellungen der „Wahhabiten“ wieder in der Propaganda der radikalen Islamisten. Trifft es zu, dass diese einfach die „wahhabitische“ Lehre übernommen haben und sie nun – in vereinfachter Form und oftmals zu Slogans reduziert – als ihre Ideologie gebrauchen? Diese Annahme muss man jedenfalls nuancieren.
Das Bündnis mit der exekutiven Gewalt
Die saudischen „Wahhabiten“ sind Schüler und Gefolgsleute der Lehre des Ibn Abdul Wahhab, der 1703–1793 in der Region Najd lebte. Sie haben nicht beansprucht, den „saudischen“ Staat, den sie gründen halfen, zu regieren. Dies überliess der Gelehrte Ibn Abdul Wahhab der Fürstenfamilie der Al Saud, mit welcher er sich 1744 verbündete. Seine Schüler und Anhänger dienten diesem Staat als Geistliche. Sie unterstützten die Saud-Familie, indem sie im 18. und im frühen 19. Jahrhundert die Ideologie der Krieger ausbreiteten und verankerten. Der von ihnen ausgerufene „Heilige Krieg“ wurde unter saudischen Befehlshabern für die Sache ihres Religionsverständnisses und zugleich für die des Staates der saudischen Emire (später Könige) geführt.
Es gab drei aufeinander folgende Staaten unter saudischer Führung und „wahhabitischer“ Ideologie. Der erste, der sich von Diriya bei Riad aus über Arabien ausdehnte, begann mit dem erwähnten Bündnis von 1744. Er wurde im Auftrag des Osmanischen Sultans und Kalifen von Istanbul von dem Heer seines ägyptischen Statthalters und de facto Herrschers in Kairo, Muhammed Ali, zerschlagen. Der damalige saudische Herrscher wurde darauf 1814 in Istanbul geköpft.
Der heutige saudische Staat
Doch seine Nachfahren errichteten zehn Jahre später einen zweiten, kleineren „wahhabitisch-saudischen“ Staat in Najd, der Region in der Riad liegt. Der letzte Herrscher dieses viel kleineren saudischen Fürstentums erlag1891 einem benachbarten Emir, jenem von Buraida, der Grossoase weiter nördlich von Riad.
Der dritte, heutige saudische Staat begann wiederum gute zehn Jahre später 1902 mit der Wiedereinnahme des Forts von Riad durch Abdel Aziz ibn Saud , der mit seinem Vater als Verbannter in Kuwait gelebt hatte.
Alle drei saudischen Staaten verdankten ihre militärische Schlagkraft den Kämpfern im „Heiligen Krieg“, die durch die wahhabitische Islamvariante aktiviert und angespornt wurden.
Aufstand der Radikalen
Doch Abdul Aziz, der Begründer des heutigen Königreiches, dessen greise Söhne es noch heute regieren, musste in den Jahren 1927 bis 1930 eine Revolte der „wahhabitischen“ Brüder niederschlagen, welche nicht gewillt waren, die vorsichtige Modernisierung und teilweise Verwestlichung des saudischen Reiches mitzuvollziehen, welche durch seine Ausdehnung über die ganze Arabische Halbinsel bedingt war.
Jene „Fanatiker“, die ein halbes Jahrhundert später, 1979, die grosse Pilgermoschee von Mekka stürmten und sich darin über zwei Wochen hielten, bis sie niedergekämpft und unter Zustimmung der offiziellen wahhabitischen Geistlichen enthauptet wurden, standen in der Tradition des ersten grossen Aufstands der „wahhabitischen“ Brüder, die der Reichsgründer 49 Jahre zuvor niedergeschlagen hatte.
Jene saudischen Bürger, die sich dem IS anschlossen, stehen in der gleichen Tradition. Ihre Zahl war die zweithöchste aus allen arabischen Ländern. Doch die höchste kam aus Tunesien.
Mit dem „Emir“ gegen die Radikalen
Die Mehrheit der wahhabitischen Gottesgelehrten und Nachfahren des Gründers stellten sich während den Aufständen der radikalen Wahhabiten auf die Seite des Emirs. Für sie galt, und gilt bis heute: dem „Emir“ (Befehlshaber, Kommandanten, Machthaber) muss man gehorchen, solange seine Herrschaft den von ihm regierten Muslimen erlaubt, als Muslime zu leben.
Die saudischen Emire taten mehr als nur dies. Sie gewährten jenen wahhabitischen Gottesgelehrten, die sich weiterhin an den Vertrag ihres Gründers mit der Saudi-Familie hielten, ein Aufsichtsrecht über den Islam in ihrem Herrschaftsbereich. Dies entsprach der historischen Tradition des Islams, den Herrschern stand die politische Führung zu.
Jedoch die Gottesgelehrten definierten den Islam und riefen die Bevölkerung dazu auf, „ihrem“ Islam Folge zu leisten. Sogar die „Emire“ wurden in diesem Sinne ermahnt, jedoch nicht gezwungen. Sie vermochten ihrerseits die Haltung der Gottesgelehrten zu beeinflussen, weil sie die Besetzung der im Staat wichtigen Posten, die Gottesgelehrten zustanden, bestimmten. Dies betraf vor allem die „Richter“ (Qadi) und Moscheevorsteher („Imame“ im Sprachgebrauch der Sunniten).
Das Ideal eines „Gottesstaates“
Doch diese „klassische“ Machtverteilung widerspricht den Forderungen der radikalen Islamisten, die der Ansicht sind, ein „islamischer Staat“ müsse nach dem Gottesgesetz und einzig nach seiner Massgabe regiert werden. Den „Emir“ anerkennen sie nicht, noch weniger einen König. Nur den „Kalifa“ als Nachfolger des Propheten und in dessen doppelter, geistlicher und weltlicher, Führungsposition.
Ibn Abdul Wahhab und seine Schüler standen in einer sehr alten muslimischen Tradition. Sie beginnt mit Ahmed Ibn Hanbal (780–855), dem grossen Rechtsgelehrten und Theologen, der sich in Bagdad den Kalifen seiner Zeit widersetzte, von ihnen gefangengenommen und ausgepeitscht worden war. Die Kalifen al-Ma'mun, al-Mu'tasim und al-Wathiq (nacheinander von 813 bis 847) wollten einer entgegengesetzten Ausrichtung des Islams ein Glaubensmonopol verschaffen, nämlich der etwas rationalistischeren Strömung, die Mu'tazila genannt wird. Ibn Hanbal widersetzte sich im Namen eines wortwörtlich verstandenen islamischen Offenbarungsverständnisses „ohne wie?“
Takfir wegen fremder Gesetzlichkeit
Hanbali-Gelehrte hat es seither islamweit zu allen Zeiten bis heute gegeben. Der berühmteste von allen war Taqi ad-Din Ibn Taymiyya (1263–1328), der in seiner Heimatstadt Damaskus und auch in Kairo mit den Machthabern zusammenstiess, sechsmal eingekerkert wurde und im Gefängnis der Zitadelle von Damaskus sterben sollte. Er hat eine berühmte Fatwa (Rechtsgutachten nach der Schari'a) geschrieben, in der er die neu zum Islam bekehrten Mongolenherrscher, die Damaskus eroberten, zu Ungläubigen erklärte, gegen welche zu kämpfen für jeden echten Muslim „obligatorisch“ sei.
Als Grund seiner Disqualifizierung der Neubekehrten gab Ibn Taymiyya an, diese Herrscher regierten nicht nach dem Gottesgesetz, der Schari'a, sondern nach ihren eigenen rechtlichen Vorstellungen, der mongolischen Yasa.
Dieses Rechtsgutachten Ibn Taymiyyas dient den heutigen islamistischen Radikalen als Rechtfertigung ihrer Haltung gegenüber den heutigen Machthabern in der islamischen Welt, die auf Grund der europäischen Gesetzgebung regieren (Code Napoleon leicht modifiziert, Anglo-Egyptian und Anglo-Indian law etc). Saudi Arabien besteht aus diesem Grunde darauf, dass das Königreich nach dem Koran und durch die Schari'a regiert werde.
Indische Parallelen
Der wahhabitischen vergleichbare Grundströmungen traten auch in anderen muslimischen Ländern ausserhalb Arabiens zutage. Die wichtigste ist die indische der Schule von Deoband. Diese wurde zwar 1866 von hanafitischen, – nicht hanbalitischen – Gottesgelehrten gegründet. Doch sie entwickelte ähnliche Grundthesen wie jene der Wahhabiten. Der Unterschied war natürlich, dass in Indien nicht ein muslimischer Emir, sondern die „christliche“ Kolonialmacht Grossbritannien regierte. Gegen sie anzukämpfen im Namen eines reinen Islams, ohne Konzessionen an europäische Rechtsstrukturen, war das ursprüngliche Ziel der Deobandi Geistlichen.
Ihnen gegenüber stand und steht heute noch die „modernistische“ Islamausrichtung des Islamreformers, Sir Sayyid Ahmed Khan, mit der von ihm 1875 als „Anglo-Oriental College“ gegründeten heutigen Universität von Alighar. Diese Strömung geht darauf aus, die westlichen Wissenschaften und humanitären Grundideen mit dem Islam zu vereinen. Diese Zielsetzung lief auf eine gewisse Zusammenarbeit mit den westlichen Institutionen und Geistesströmungen hinaus.
Deobandi und Wahhabi treffen in Afghanistan zusammen
Die afghanischen Taliban können als ein Zweig der Deobandi-Bewegung gelten. Sie haben allerdings Vorstellungen in ihre Ideologie und Praxis aufgenommen, die aus dem einheimischen Volksislam der paschtunischen Stämme Afghanistans und Pakistans stammen. Als in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Saudi mit Geld und mit Waffen die Taliban-Bewegung unterstützten und ihr zusammen mit Pakistan zur Machtergreifung über Afghanistan verhalfen, sind die wahhabitischen und die Deobandi Tendenzen zusammengelaufen.
Bei den afghanischen Taliban fand dann aber der saudische Aktivist, und jihadistische Provokateur, Osama Bin-Ladin, den das Königreich ausgebürgert hatte, Gastfreundschaft und Unterschlupf. Wie 70 Jahre zuvor innerhalb der arabischen Halbinsel haben die wahhabitischen (diesmal mit den Deobandi verschmolzenen) Grundströmungen zuerst mit Billigung des saudischen „Emirs“ (nun Königs) eine erfolgreiche Eroberungs und Expansionspolitik geführt.
Die Taliban und der saudische „Abtrünnige“ Bin-Ladin
Doch wie in Arabien, als die wahhabitischen „Brüder“ (Ikhwan) sich dem König widersetzten und niedergekämpft wurden, widersetzten sich die Taliban, die mit saudischer Unterstützung an die Macht gekommen waren, dem saudischen Establishment und verbündeten sich mit dem von diesem Establishment verbannten Aktivisten und „Terroristen“ Bin Ladin. Was ihnen in der Folge den amerikanischen Krieg eintrug. Dieser Krieg, heute halb vergessen, dauert immer noch an, ohne dass die Amerikaner und ihre europäischen Hilfskräfte ihn endgültig für sich hätten entscheiden können.
Auch in diesen Vorgängen wird das Doppelgesicht der wahhabitischen Gundströmung deutlich: sie trägt anfänglich bei zur Ausdehnung der saudischen Macht, kann sich jedoch in der Folge gegen sie umkehren, weil sie sich dem saudischen „Emir“ nicht unterstellen will, sondern sich gegen ihn auflehnt.
Kein Bündnispartner ausserhalb der Arabischen Halbinsel
In den arabischen Staaten ausserhalb Saudi-Arabiens gibt es keinen „Emir“ im Sinne des saudischen Königtums. Einzelherrscher sind zwar die Mehrheit. Aber sie üben ihre Macht aus als „Präsidenten“ oder als Monarchen im europäischen Post-Aufklärungs-Stil. Sie beanspruchen keine islamische Rolle und regieren auch nicht im Aktionsbündnis mit den Gottesgelehrten, wie die saudischen Herrscher es tun.
Eine mögliche Ausnahme bildet der König von Marokko, der sich „Beherrscher der Gläubigen“ tituliert und den Anspruch erhebt, als solcher zu handeln. Eine weitere Ausnahme ist der schiitische Herrschende Gottesgelehrte im heutigen post-revolutionären Iran.
Wenn sich nun in einem Staat mit einer grossen Mehrheit muslimischer Bürger die Glaubensrichtung der Wahhabiten ausbreitet, heisst das: Strenge Nachahmung des Propheten, Ablehnung jener, die nicht der wahhabitischen Richtung folgen, Annahme der Offenbarung ohne zu fragen, wie. Und wenn es aber in diesen Staaten keinen „Emir“ gibt, der als weltlicher Partner der wahhabitischen Ausrichtung wirkt, wächst die Gefahr, dass die Träger der wahhabitischen Glaubensrichtung oder Ideologie sich versucht oder veranlasst sehen können, selbst nach der Macht zu greifen.
Der „weltliche“ Machthaber – nicht ausdrücklich verbündet mit ihnen – erscheint ihnen als ungerechtfertigt. Dies besonders dann, wenn dieser Machthaber sich als korrupt oder ungerecht und tyrannisch erweist. Die Zusammenarbeit mit einem „Emir“ wird unmöglich, weil es diesen Emir im Sinne eines weltlichen Verbündeten der wahhabitischen Geistlichen gar nicht gibt – nur einen Präsidenten oder König, der sich auf westliche Regelungen abstützt und dabei in vielen Fällen illegitime Gewalt gebraucht.
Salafiten/Wahhabiten und Jihadisten
Aus dem Blickwinkel der wahhabitischen Lehre steht in solchen Fällen die islamische Gemeinde unter „ungläubiger“ Führung. Diese ist nicht islamisch sondern europäisch und religionslos, „laizistisch“, wenn nicht sogar „atheistisch“ geprägt. Dagegen aufzubegehren erscheint als Pflicht. Der Widerstand kann mit friedlichen oder mit kriegerischen Mitteln geleistet werden.
Die Geister und Gruppen scheiden sich an der Wahl der Mittel. Eine grosse Mehrheit der von der wahhabitischen Ideologie beeinflussten Muslime, die heute auch als „Salafiten“ bezeichnet werden, entscheidet sich für friedliche Mittel. Sie hofft durch Predigt und Propaganda (Da'wa, Mission) einen „islamischen Staat“ herbeizuführen, der durch einen „islamischen“ Emir angeführt wird. Darunter verstehen sie einen mit ihnen verbündeten und ihre Zielsetzungen billigenden Machthaber.
Doch es gibt Minderheiten, die sich für einen „Jihad“ entscheiden, einen Heiligen Krieg, der diesen Zustand herbeiführen soll. Man nennt diese Minderheiten denn auch „Jihadisten“.
Die „Religionsunternehmer“
Ob und unter welchen Umständen diese Minderheiten zu agieren vermögen, hängt natürlich von vielen äusseren Umständen ab. Generell gesehen müssen Situationen entstehen, in denen Predigt und Propaganda als unmöglich oder hoffnungslos erscheinen, um den gewaltwilligen Jihadisten Auftrieb zu verschaffen. Solche Zustände treten auf, wenn der Staat zerbricht oder völlig seinen Kredit verliert.
Doch gibt es natürlich Minderheiten und ehrgeizige Einzelne, die versuchen können, den Staat zu zerstören, um dann in die Lage zu geraten, jihadistische Gewaltwillige um sich zu sammeln. Sie wissen, die salafitische Ideologie – wie eine jede religiöse Strömung, die Widerhall findet – kann als potentes Instrument dienen, um Menschen um sich zu scharen und sie zum Handeln anzuspornen. Sie wissen heute sogar, dass die Aktionswilligkeit mit jihadistischer Motivation bis zur Selbstaufopferung durch Selbstmordbomben führen kann.
Dies sind potente Waffen in den Händen von „Religionsunternehmern“ geworden, von denen ungewiss ist, inwieweit es ihnen selbst um Förderung ihrer religiösen Doktrinen geht oder inwieweit sie diese einfach als Machtinstrumente gebrauchen.
Provokation als Geschäftsgrundlage
Machthungrige Religionsunternehmer können zu Provokationen gegenüber bestehenden Staaten schreiten, sogar wenn sie nur über kleine Anhängerschaften verfügen. Wenn die Staaten sich provozieren lassen und allzu massiv oder allzu pauschal zurückschlagen, können sie dadurch die Gewalt anstrebenden Religionsunternehmer erst so richtig in Gang bringen. Sie verschaffen ihnen einen Massenanhang, der sich aus allen Jenen rekrutiert, die sich unrecht behandelt fühlen.
Dies war der Fall von al-Kaida. Es gelang dieser Gruppe, die Bush-Administration zum „Krieg gegen den Terrorismus“ zu provozieren, der den Muslimen nicht ohne Grund als ein Krieg gegen den Islam erschien. Im Verlauf dieses Krieges vergriff sich die Bush-Regierung am Staat Irak, den sie zum Ziel eines Grossangriffs machte. Die Reaktion darauf – unter den sehr spezifischen gegebenen Umständen einer undurchdachten und verfehlten Besetzungspolitik und ihren Spätfolgen – brachte schliesslich den IS hervor.
Die Durchschlagskraft dieser spezifischen Inkarnation des islamistischen Jihadismus beruhte zu guten Teilen auf dem Umstand, dass in den Rängen des „Kalifates“ nicht nur islamistisch motivierte Jihadisten ein Aktionsfeld fanden, sondern auch mit ihnen verbündet und verschmolzen ehemalige Offiziere der – durchaus weltlichen – Geheimdienste des Diktators Saddam Hussein.
Sie setzten ihre grausamen Machttechniken ein, um der islamistischen Bewegung ein territoriales Gebiet zu schaffen (das „Kalifat“), das sie seit 2014 bis heute aufrechterhalten konnten. Wobei sie allerdings Gebietseinbussen erlitten und die Aussicht besteht, dass sie wahrscheinlich über die kommenden Monate oder Jahre hin ihr Herrschaftsgebiet wieder verlieren werden.
Jihadismus unabhängig von Territorien
Dies wird aber nicht das Ende der jihadistischen Aktivitäten unter salafitischem Vorzeichen bedeuten. Sie werden im Untergrund fortbestehen, und überall dort, wo sich die richtigen Bedingungen für ihre Ausbreitung einstellen, neu aufleben, entweder mit eigener territorialer Macht als neuer Anlauf zu einem „islamischen Staat“, oder auch nur als Untergrundgruppen, die bemüht sind, die bestehenden Staaten zu unterwühlen.
Je weniger glaubwürdig diese Staaten bei der eigenen Bevölkerung – oder auch nur bei spezifischen Teilen derselben – sind, desto aussichtsreicher werden die Chancen der jihadistischen Religionsunternehmer bleiben.
Ausbreitung im globalen Spielfeld
Was die offensichtlich wirksame Ausbreitung des wahhabitischen Gedankengutes in den modernen arabischen und islamischen Gesellschaften ausserhalb der arabischen Halbinsel angeht, so ist es wahrscheinlich zu einfach, sie auf die blosse Finanzierung durch Saudi Arabien zurückzuführen. Diese gibt es. Doch ihre Wirkung hängt auch zusammen mit der besonderen Lage, in der sich die islamische Religion innerhalb ihres heutigen globalen Umfelds befindet.
Nationalstaaten in der Krise
Die arabischen und viele andere muslimische Völker sind in den letzten Jahrhunderten Gegenstand kolonialer Herrschaft oder kolonialer Hegemonie durch die nichtmuslimischen – ihrem Selbstverständnis nach oftmals „christlichen“ – Europäer und Amerikaner geworden. Sie haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg davon befreit und sind dabei mehr nationalistischen als islamischen Ideologien gefolgt.
Sie haben sich nach europäisch-amerikanischem Vorbild als Nationalstaaten konstituiert. Doch diese Nationalstaaten sind, besonders im arabischen Bereich, in Krisen geraten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie haben innere Ursachen und aussenpolitische Komponenten, auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Beweggründe.
Globalisierung als Entfremdung vom Eigenen
Die Globalisierung der letzten Jahrzehnte hat diese Krisen verstärkt. Sie wirkte sich für die arabische Welt dahin aus, dass gewisse Oberschichten geringen Umfangs aber wachsenden Reichtums in der Lage waren, in die globalisierte Wirtschaft und die globalisierte Kultur einzutreten und sich daran zu beteiligen. Doch grosse Mehrheiten der stark wachsenden und schnell verarmenden Unterschichten waren nicht in der Lage dazu. Sie sahen sich zunehmender Aussichtslosigkeit ausgesetzt. Die Aufstiegschancen wurden mehr und mehr Privileg der ohnehin Privilegierten, die sich auf die neue Globalität einstellen konnten. Die Regierenden gehörten zu ihnen, und sie pflegten ihre Machtbasis dadurch auszubauen, dass sie ausgewählte Gruppen aus ihrem Umkreis an den Privilegien teilhaben liessen.
Ausgeschlossene Unterschichten
Die aussenpolitischen Partner wandten sich unvermeidlicherweise an die Privilegierten, welche die Macht ausübten. Sie galten ihnen als die Vertreter ihrer Nationen. Was die grossen Unterschichten ausschloss und in der Verarmung – politisch, wirtschaftlich und kulturell – zurückliess.
Die Hinwendung zum Islam in seiner wahhabitisch-salafitischen Variante war eine Folge dieser inneren Spaltung in wenige Machthaber auf der globalisierten Höhe der „Weltkultur“ und unermesslich viele davon Ausgeschlossene.
Muslimische Identität gegen Globalisierung
Die Ausgeschlossenen suchten Identität und Halt bei der Religion, welche viel mehr als die „Nation“ ihr geistiges Erbe umschrieb. Religionsunternehmer traten auf, die diese Strömungen zu kanalisieren und zu benützen strebten. Wobei die Grenzen zwischen Mitwirken und Ausnützen oftmals verschwommen blieben. Die simplistische Ideologie des „Zurück in die grosse Zeit des Propheten“ gewann unter diesen Bedingungen Zugkraft. Dass sie auch von Saudi-Arabien finanziert und propagiert wurde, half zwar, war aber wahrscheinlich nicht der Hauptgrund ihres Aufblühens. Dieser war durch die Lage in den muslimischen Gesellschaften gegeben, auf welche die wahhabitische Lehre stiess.
Wenn diese Diagnose zutrifft, bedeutet das auch, dass Angriffsflächen für die wahhabitische Lehre und ihre unter bestimmten Umständen eintretende Hinwendung zum islamistischen Jihadismus weiter bestehen werden, bis die geschilderten gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen sie fusst, sich verändern.