Ein Ausflug auf den Brienzersee kann sehr verschiedene Zwecke haben: Die einen suchen nach den Reminiszenzen einer koreanischen Notlandung, die andern nach einer sanften Landung in der Belle Epoque und wiederum anderen geht es einfach um die Fahrt auf einem einzigartigen Salondampfer.
Als der Zug aus Bern im Bahnhof Interlaken Ost, dem Super Hub des Schweizer Tourismus, ankommt, bricht Hektik aus. Menschen aus aller Welt drängen auf dem Perron aneinander vorbei, jede und jeder mit einem andern Ziel und einem eigenen Traum. Sie suchen die Bahn zum Jungfraujoch, das sich selbstbewusst «Top of Europe» nennt, oder die Zentralbahn über den Brünig nach Luzern, den Bus nach Iseltwald oder das Schiff nach Brienz, das unmittelbar neben den Gleisen auf der Aare wartet.
Vor der «Lötschberg», dem stolzen Dampfschiff, das – oh Wunder! – den Modernisierungs-Tsunami der 1960er- und 1970er-Jahre überlebt hat und heute auf dem Brienzersee nicht mehr wegzudenken ist, hat sich bereits eine lange Schlange gebildet, darunter auffallend viele junge Menschen aus dem Fernen Osten, welche zusammen mit den typischen Pensionisten, welche an Werktagen Schiffe und Bergbahnen der Schweiz bevölkern, heute einen der tiefsten Schweizer Seen (260 Meter) erkunden wollen. Zu letzteren gehören auch wir, mein alter Freund Hans, bekannt als «Mister Taktfahrplan» und als unermüdlicher Kämpfer für den ÖV, und ich. Einmal im Jahr treffen wir uns irgendwo in der Schweiz, erkunden neue Bahnverbindungen oder besuchen Bahnstrecken oder Seen, mit denen uns nostalgische Erinnerungen verbinden.
So wie heute: Auf der «Lötschberg» haben Hans und Margrit vor über fünfzig Jahren den Bund der Ehe geschlossen. Seither hat sich auf der Welt vieles verändert, Wichtiges und weniger Wichtiges. Der Zahn der Zeit hat genagt, an uns Menschen und an dem, was sie geschaffen haben, zum Beispiel elegante Dampfschiffe, welche – ist der Mensch vorausschauend genug – das Altern eigentlich besser überstehen könnten als seine Erschaffer, falls sie nicht durch eine unreflektierte Modernisierungswelle für immer weggefegt werden. Die «Lötschberg» hat es geschafft; auch nach 110 Jahren strahlt sie Eleganz, Vitalität und Würde aus.
Der Kapitän steht persönlich am Steg und begrüsst seine Gäste. Er freut sich sichtlich, dass heute sein einstiger Chef wieder einmal mit von der Partie ist. Wir verziehen uns ins Stübli auf dem vorderen Oberdeck. Pünktlich werden die Leinen gelöst. Langsam schiebt sich das Schiff der Strömung der Aare entgegen, welche nach dem vielen Regen heute recht gross ist. Nach der Unterquerung der alten Fachwerkbrücke, auf der eben ein Zug der Zentralbahn Richtung Meiringen und dem Brünig unterwegs ist, öffnet sich der Blick auf die grandiose Landschaft des Brienzersees. In einer weit ausholenden Rechtskurve umfährt unser Schiff das Delta der Lütschinen und manövriert sich dann rückwärts – eine Besonderheit des Dampfschiffes – an den in einer engen Bucht liegenden Landungssteg von Bönigen.
Das Wetter zeigt sich für einmal von der besseren Seite, als wir nach Ringgenberg weiterfahren und schliesslich Richtung Iseltwald den See erneut queren. Iseltwald, einzige Ortschaft am linken Ufer des Brienzersees, ist Ausgangspunkt schöner Wanderungen und beliebt unter Menschen, welche dem Touristentrubel des Berner Oberlands gerne aus dem Weg gehen. – Doch das war einmal: Das Leben in der Beschaulichkeit hat sich seit zwei Jahren gründlich verändert, als Filmautoren im fernen Südkorea für die Netflix-Serie «Crash Landing on You» (wörtlich aus dem Koreanischen übersetzt: Notlandung der Liebe) auf die Idee gekommen waren, für eine offenbar besonders dramatische Szene als Drehort einen unscheinbaren Steg in Iseltwald auszuwählen. Dort sitzen Held und Heldin an einem Klavier und schauen über den See Richtung Interlaken.
Besagter Steg liegt gleich neben der Schifflände, wo jetzt die Lötschberg festmacht. Eine stattliche koreanische Gruppe verlässt hier das Schiff, junge Menschen, welche durch ihre Sehnsucht, Teil einer grösseren Geschichte zu sein, vereint sind. Gleichzeitig kommt eine andere Gruppe an Bord, deren Mitglieder offenbar bereits die obligatorischen Kultbilder in ihrem Handy gespeichert haben.
Während das Schiff am Landungssteg liegt, wird eine Frau auf dem kleinen Steg von zwei Männern fotografiert, während eine zweite Frau auf ihren Einsatz wartet. Die vier haben während einiger Minuten den Steg für sich allein, während sich an Land bereits eine Warteschlange von andern Fans gebildet hat. Das war nicht immer so; der Ansturm auf den Steg ist manchmal so gross gewesen, dass die Gemeinde Iseltwald den Zugang mit einer Sperre versehen hat, welche gegen Bezahlung jeweils den Zutritt einer beschränkten Zahl von Personen erlaubt. Auch der Postautokurs von Interlaken nach Iseltwald musste verstärkt werden. Neuerdings versucht die Post sogar, mit entsprechenden Aufklebern auf ihren Bussen die Touristen für andere Ziele zu interessieren. Ich glaube allerdings nicht, dass sich damit viel ändern wird.
Unser eigener «Kultort» liegt einen Halt weiter, bei der Talstation der Giessbachbahn. Eröffnet im Jahre 1879 war sie die erste touristische Standseilbahn der Schweiz und zugleich die erste Bahn, welche mit einem Wasserübergewicht-Antriebsystem versehen war. An der Bergstation wurde jeweils ein Tank mit bis zu 5 Kubikmeter Wasser gefüllt – der Giessbach lieferte davon mehr als genug –, so dass sich dank des Zusatzgewichtes die beiden durch ein Seil verbundenen Wagen in Bewegung setzten, sobald die Bremsen gelöst wurden. An der Talstation wurde das Wasser wieder abgelassen, während gleichzeitig an der Bergstation der Tank des andern Wagens gefüllt wurde.
Dieses Antriebsystem funktionierte noch ohne Elektrizität und wurde später bei zahlreichen andern Standseilbahnen im In- und Ausland eingebaut. Ich erinnere mich gut an das tosende Geräusch des in wenigen Sekunden abfliessenden Wassers an der Talstation der Standseilbahn Lugano-Bahnhof FSS, als ich in den 1950er-Jahren mit meinem Vater im Tessin in den Ferien weilte. Von dieser Bahn hat übrigens die Giessbachbahn im Jahre 1891 die verbesserte Abt’sche Weiche übernommen, welche zusammen mit einer besonderen Anordnung der Spurkränze an den Wagen dafür sorgt, dass bei der Kreuzung in der Mitte der Strecke jeder Wagen «weiss», auf welche Seite er auszuweichen hat. Sie wird bis heute bei allen Standseilbahnen mit Ausweiche angewendet.
Meines Wissens sind die Übergewichtsantriebe in der Schweiz unterdessen überall durch elektrische Antriebe ersetzt worden. Bei der Giessbachbahn geschah das im Jahre 1912, als eine Peltonturbine eingebaut wurde, welche rein mechanisch (also auch noch ohne Strom) das Antriebsrad des Seiles bei der Bergstation in Bewegung setzte. Erst 1948 wurden erstmals Elektromotoren verwendet.
Auf einer eleganten Brücke über den Giessbach überwinden wir mit der Bahn die rund hundert Höhenmeter hinauf zum Grandhotel Giessbach, wo wir einen Tisch fürs Mittagessen reserviert haben. Über dieses einzigartige Zeugnis der Belle Epoque liessen sich viele Seiten füllen. Daher in aller Kürze soviel: Die Giessbachfälle wurden ab 1822 touristisch erschlossen. 1832 entstand ein erstes Gasthaus, 1858 das grössere Kurhaus, das noch heute steht, und 1875 wurde das Grandhotel eröffnet, also vier vor Jahre vor der Standseilbahn. Nach langem Niedergang schien 1979 das Schicksal des Hotels besiegelt, hätte nicht Franz Weber 1983 das Hotel erworben. Ab 1984 wurde das Hotel von einer speziell eingerichteten Stiftung etappenweise renoviert und wieder in Betrieb genommen. Heute erstrahlt das Grandhotel in altem Glanz.
Drei Stunden später – die Lötschberg hat unterdessen auf dem Brienzersee eine ganze Runde gedreht – bringt uns der Dampfer nach Brienz. Die Landung erfolgt, wie Hans mit einem Blick auf die Uhr feststellt, mit zwei Minuten Verspätung, was zur Folge hat, dass sich die Barrieren, die man vom Schiff zur Bahn überqueren muss, vor unserer Nase senken und uns den Zugang zum bereits im Bahnhof stehenden Zug der Zentralbahn nach Luzern versperren. Er kenne das Problem, sagt Hans trocken, aber alles sei bestens eingespielt, denn jetzt müsse zuerst der Entlastungszug nach Interlaken aus dem Bahnhof fahren, dann gehe die Barriere auf und wir würden unseren Zug immer noch bequem erreichen, denn das Bahnpersonal sei instruiert, mit der Abfahrt zu warten … Und so ist es dann auch. Niemand muss sich beschweren, alle sind zufrieden, Passagiere und Personal, auch der «Wirt» im Zugsrestaurant, der seit über 30 Jahren auf dieser Strecke im Einsatz ist und «Mister Fahrplan» als alten Bekannten herzlich begrüsst.
Die Fahrt über den Brünig ist wie immer ein besonderer Genuss. Am Sarnersee hat das Wasser stellenweise das Land überflutet, aber die pünktliche Ankunft in Luzern ist nicht gefährdet. Dort trennen sich unsere Wege.
Auf der Heimfahrt geht mir durch den Kopf: Ein eingespielter Fahrplan ist ein Kunstwerk, an dem Künstler aller Art beteiligt sind. Das gilt auch für denjenigen des «Disneyland Schweiz».