Das Team des Kunsthauses in Aarau ist stolz auf die eigene Sammlung: Es sei die beste, was Schweizer Kunst betrifft. Jetzt präsentiert das Haus in allen seinen Räumen, was es an Schweizer Gegenwartskunst besitzt.
Hier Wechselausstellungen, dort die Sammlung: Das ist in Museen Courant normal. Das Aargauer Kunsthaus in Aarau macht eine Ausnahme und präsentiert Sammlungsbestände auf allen seinen drei Etagen – und erst noch keine der bekannten Highlights aus früheren Jahrhunderten und was es an Werken grosser Namen der Schweizer Kunstgeschichte hütet. Das Haus will zeigen, was seit dem Bezug des Erweiterungsbaus von Herzog & de Meuron im Jahr 2003 an Zugängen zu verzeichnen ist. Die Eröffnung des Erweiterungsbaus war eine wichtige Wegmarke für das Museum, das ab diesem Zeitpunkt über wesentlich mehr Raum für Wechselausstellungen und für die Sammlung verfügte.
Viele Neuerwerbungen kamen im Zusammenhang mit der Ausstellungstätigkeit ins Haus. Unter der Direktion von Madeleine Schuppli, die als Nachfolgerin von Beat Wismer von 2007 bis 2020 das Haus leitete, bildete die Schweizer Gegenwartskunst einen Schwerpunkt. Zahlreiche Werke sind Geschenke von Künstlern und Sammlern – zum Beispiel von Ellen und Michael Ringier rund 40 «substanzielle Werke», wie das Haus verlauten lässt. Viele sind Dauerleihgaben teils auch der öffentlichen Hand, des Bundesamtes für Kultur beispielsweise. Wie ein Magnet scheint die auf Schweizer Kunst fokussierte Sammlung Kunstwerke anzuziehen. Viele Künstlerinnen und Künstler sollen, so Sammlungskonservatorin Simona Ciuccio, grossen Wert darauf legen, mit ihren Werken in diesem attraktiven Umfeld vertreten zu sein. Aarau besitzt tatsächlich die umfassendste Sammlung von Schweizer Kunst, die nach 1900 entstanden ist.
Ein Thema, aber keine Theorie
Simona Ciuccio zeichnet zusammen mit Katrin Weilenmann für die Ausstellung verantwortlich. Ein «Thema» müsse sein, fanden die beiden Kuratorinnen –, suchten nach Griffigem und wählten als Titel «Davor – Darin – Danach», eine Art Trilogie also, die sich in Beziehung zu den drei Stockwerken setzen lässt und auch eine zeitliche Abfolge suggeriert, ohne allerdings streng auf Chronologie zu setzen. Der Titel ist tatsächlich griffig und vielleicht auch werbewirksam, aber deswegen nicht klar. Er ist im Gegenteil so weit gefasst, dass er allem Platz bietet und niemanden einengt: Viel Raumgreifendes, Malerei jeder Art, Zeichnung, Fotografie, Skulptur, Installation, Video, Riesenformate, kleinste Formate, Ephemeres, reine Textarbeiten. Das Haus öffnet seinen Besucherinnen und Besuchern das ganze Erlebnisfeld einer zeitgenössischen Schweizer Kunst, die regionale, stilistische oder mediale Grenzen längst gesprengt hat.
Die Kuratorinnen legen der Ausstellung keine Theorie zugrunde. Sie scheinen in ihrer Präsentation der Werke auch nicht auf Entsprechungen oder harte Gegenüberstellungen und entsprechende Reibungen zu setzen. Einzelnen Werkgruppen geben sie intime geschlossene Räume (Valérie Favre, Francisco Sierra, Bruno Jakob oder Hans Schärer). Anderen Werken bieten sie Gelegenheit zum grossen Auftritt – Miriam Cahn zum Beispiel und ihrem Riesenformat eines weithin strahlenden roten Baumes.
Auch Ugo Rondinones gleich mehrfache Auftritte oder Urs Fischers Installation leben von der grossen Geste. Fast alle Künstlerinnen und Künstler sind heute aktiv, einige sind gestorben, wie Hans Schärer, Christian Rothacher und Hannah Villiger, die in einer Aarauer Ausstellung niemals fehlen darf.
Eine Künstlerin ist Ausländerin – die aus Indonesien stammende Fiona Tan, deren Werk «Vox Populi Switzerland», im Zusammenhang mit ihrer Ausstellung in Aarau (2010) entstanden, sich ganz direkt mit Schweizer Identität auseinandersetzt.
Flanieren durch die Ausstellung
Simona Ciuccios und Katrin Weilenmanns Verzicht auf einen theoretischen Überbau geht einher mit der Absicht, des Publikum zum Flanieren zu verführen, durch die Räume zu streifen, hier oder dort zu verweilen, sich zu freuen, zu staunen und sich überraschen oder bestätigen zu lassen. Dabei ist in abwechslungsreicher Folge viel zu sehen, auch wenn nur ein Prozent der insgesamt 20'000 Werke umfassenden Sammlung Eingang in die Präsentation fand. Auch so bietet die Ausstellung Gelegenheit zu stillen Entdeckungen oder Wiederbegegnungen mit Bekanntem, setzt aber oft auch auf eher lauten Mainstream – auf eine Kunst, wie sie gut vernetzte Galerien in aller Welt anbieten. In einigen Fällen beziehen die Kuratorinnen Leihgaben in ihr Konzept ein, als wollten sie auf Fehlendes hinweisen.
Sie tun dies bei Mario Sala und geben so dem Wunsch des Hauses Ausdruck, die kleine Präsenz dieses Künstlers in der Sammlung mit weiteren Ankäufen auszuweiten. Das Formulieren solcher Desiderata ist sinnvoll. Ein Beispiel: Der Westschweizer Didier Rittener ist in der Ausstellung mit nur einer (allerdings sehr grossen) Zeichnung vertreten und gewinnt so für viele Besucherinnen und Besucher nur schwer ein erkennbares Profil. Über einen QR-Code findet jedoch, wer will, bei diesem und auch anderen Werken Zugang zur «Sammlung Online» mit zusätzlichen Informationen über Werk und Künstler.
Schwieriges Sammeln von Gegenwartskunst
Wenn der Titel «Davor – Darin – Danach» beliebig wirken mag, so ist der Untertitel «Die Sammlung im Wandel» sachbezogener, denn die Ausstellung verweist in manchen Teilen auf einen zwangsläufig neuen Umgang mit zeitgenössischer Kunst, die sich häufig nicht mit herkömmlichen Methoden sammeln und warten lässt: Neue Kunst fordert die Museen auf neue Art. Da und dort sei aber auch die Frage gestattet, ob denn wirklich alles und jedes gesammelt werden muss.
Ein Beispiel ist das 2012 erstmals in Aarau gezeigte Werk von Marc Bauer im Untergeschoss. Der Künstler zeichnete mit Kohle direkt auf die Wand eine Fotografie nach, die Goebbels und andere Nazi-Grössen beim Besuch einer Ausstellung mit «entarteten» Werken von Emil Nolde und Gerhard Marcks zeigt. Daneben präsentiert Bauer zwei Werke aus der hauseigenen Sammlung des Aargauers Karl Ballmer (1891–1958), der in Deutschland lebte. Seine Kunst galt als «entartet». 1938 verliess er Deutschland wegen Repressionen durch die Nazis und liess sich im Tessin nieder. Eine Wandzeichnung in der Sammlung? Eine Zeichnung direkt auf die Wand – und das ist für den Künstler wohl entscheidend – lässt sich nicht konservieren. Sie ist, im Gegensatz zu Ballmers Bildern, vergänglich, und was sie zeigt, soll sich nicht wiederholen. Will man sie trotzdem wieder präsentieren, muss der Künstler sein Werk neu zeichnen, was er für diese Ausstellung auch getan hat. Ihren tieferen Sinn erhält die Zeichnung auch nur durch die gleichzeitige Präsentation der Malereien Balmers.
Ein Loch sammeln?
Ein anderes Beispiel: Michael und Ellen Ringiers schenkten dem Aargauer Kunsthaus Urs Fischers «The Intelligence of Flowers (Installation, Wandlöcher, variabel)». Das Werk besteht aus einem kreisrund aus der Stellwand ausgeschnittenen grossen Loch. Was ausgeschnitten wurde, ist als Bestandteil von Fischers Konzept nebenan sichtbar präsentiert. Die Installation gestattet einen effektvollen Durchblick in die nächsten Räume, auf eine Malerei und eine Gross-Skulptur Ugo Rondinones.
Beide Beispiele rufen auf je andere Art die Problematik des Sammelns von Gegenwartskunst ins Bewusstsein. Marc Bauers Installation zielt ins Wesentliche politisch relevanter – und auch politisch missbrauchter – Kunst, und sie tut es eindrücklich mit der Eigengesetzlichkeit der Kunst. Der als «Superstar» gehandelte Urs Fischer liebt die Provokation. Er mag auch ähnliche, aber weit aggressiver vorgetragene und eben nicht museal konservierte Gesten künstlerischer Provokation der 1960er und 1970er Jahre mitbedenken oder sie gar zu wiederholen versuchen. Seinem ins Zentrum eines kommerzialisierten Kunstbetriebs eingeschleusten Werk wird im Sammlungskontext museale Würde attestiert und Dauer verliehen. Gleichzeitig setzt Fischer die Installation dem gleissende Licht seiner Ironie aus: Ein Loch sammeln? Und in ein paar Jahren das Loch vielleicht erneut aus einer Stellwand schneiden? Der Scheinwerfer der Ironie trifft, da Fischer und seine Galeristen selber in den hohen Sphären des weltweiten Kunstbetriebes heimisch sind, auch auf die Sammler, die Institution Museum – und auf Fischer selber. Es mag absurd erscheinen, diesen Akt der Institutionskritik – das Loch in der Wand – zu «sammeln». Der Sammlungskonservatorin Simona Ciuccio und den Restauratoren des Aargauer Kunsthauses bleibt die undankbare Aufgabe, ein Werk zu hegen und pflegen, das gar nicht zu pflegen ist.
Das Aargauer Kunsthaus will sich nach «Davor – Darin – Danach» weiter mit der eigenen Sammlung beschäftigen: Ende August eröffnet es eine von Elisabeth Bronfen kuratierte Ausstellung mit dem Titel «Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau». Das Haus kündigt die Schau wie folgt an: «Ausgehend vom Depositum des Sammlers Andreas Züst sowie anderer Bestände beleuchtet die Ausstellung das Verhältnis von visueller Kunst und sexueller Differenz in der Moderne und der Postmoderne.» Zugleich werde mit Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre das «feministische Erbe der Sammlung in den Fokus gerückt» – mit Künstlerinnen wie Miriam Cahn, Dorothy Iannone, Manon, Meret Oppenheim oder Ilse Weber. Die Beschäftigung mit der eigenen Sammlung wird ihren Niederschlag in einer Publikation finden, die 2023 erscheint.
Im kommenden Jahr soll eine Publikation über die Sammlung erscheinen.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 7. August.