Um seinen Tod ranken sich seit eh und je Legenden und Spekulationen, nun soll nach dem Willen der chilenischen Justiz Klarheit geschaffen werden. Laut der offiziellen Version hat Salvador Allende, in dem viele seiner Landsleute auch heute noch einen Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit sehen, Selbstmord begangen. Die 1973 vorgenommene Autopsie ergab, dass der Staatschef an einem Gewehrschuss in den Mund aus kurzer Distanz starb. Sein Leibarzt Patricio Guijón, der in der Todesstunde an seiner Seite war, sagte aus, Allende habe sich mit einer Rifle AK-47, einem Geschenk des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro, umgebracht, unmittelbar bevor Soldaten den Präsidentenpalast in Santiago stürmten. Er hatte sich dort verschanzt, als die Luftwaffe auf Befehl von General Augusto Pinochet den Regierungssitz und einige Armenviertel bombardierte. Über „Radio Magellan“ richtete Allende die letzten Worte an sein Volk: „Sie können uns unterjochen, den Fortschritt können sie nicht aufhalten.“ In Verhandlungen mit den Belagerern erreichte der Präsident den Abzug von Frau und Kindern. Dann, so glaubte man bisher, nahm er sich das Leben.
Auch Allendes nächste Angehörige akzeptierten die Suizid-These. Seine Tochter Isabel (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen chilenischen Erfolgsschriftstellerin), die nach dem Tod des Vaters 16 Jahre im Exil verbrachte und heute Senatorin der Sozialistischen Partei ist, hat in den vergangenen Jahren mehrmals erklärt, dass sie die Autopsie-Ergebnisse für glaubwürdig halte. „Mein Vater hat in aller Klarheit zu verstehen gegeben, dass er den belagerten Präsidentenpalast nicht lebend verlassen werde“, sagte Isabel Allende im Gespräch mit lokalen Medien. „Er wollte zeigen, dass ein demokratisch gewählter Präsident sein Mandat bis zum Ende ausüben muss.“
Zwei Einschüsse
Das Bild vom tragischen Helden, der lieber Selbstmord beging, als seine Ideale zu verraten, ist in den vergangenen 37 Jahren von vielen Allende-Anhänger gepflegt worden. Ein Teil seiner Sympathisanten hat hingegen nie an die Suizid-Version geglaubt. Sie sind jetzt von der chilenischen Justiz in ihren Zweifeln bestärkt worden. Diese hat eine Untersuchung eingeleitet, nachdem ein Rechtsmediziner, der das Autopsie-Protokoll aus dem Jahr 1973 prüfte, die Zeugenaussage des Leibarztes von Allende in Frage stellte. Aus den Unterlagen über die mögliche Todesursache gehe hervor, dass der Körper des Präsidenten zwei Einschüsse aufgewiesen habe, hielt der Sachverständige fest. Doch nur bei einem könne man zweifelsfrei auf Munition aus einer AK-47 schliessen. Somit lasse sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welcher der beiden Schüsse Allendes Tod herbeigeführt habe.
Ein Stück Vergangenheitsbewältigung
Wie der Mitbegründer der sozialistischen Partei in Chile wirklich gestorben ist, wird möglicherweise aller juristischen Anstrengungen zum Trotz nie vollständig geklärt werden können. Die Untersuchung ist aber ein weiterer Mosaikstein im Bemühen, die Herrschaft der Generäle rechtlich und moralisch aufzuarbeiten. Die Schergen der Militärdiktatur unter Pinochet, so belegt der Bericht einer unabhängigen Kommission, haben nach dem Sturz von Allende systematisch politische Gegner verfolgt, misshandelt und getötet. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden zwischen 1973 und 1990 mehr als 3000 Menschen umgebracht, etwa 1000 verschwanden spurlos.
Nach der Rückkehr zur Demokratie begannen die Chilenen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn auch zaghaft und gegen massive Widerstände. Dieser schmerzhafte Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber er hat in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Die Zahl jener, die nach wie vor glauben, Pinochet habe mit seinem blutigen Staatstreich gegen Allende eine der düstersten Perioden in der Geschichte des Landes beendet und Chile von der Geissel des Marxismus befreit, wird immer kleiner. Und je länger, je mehr setzt sich in der chilenischen Gesellschaft die Einsicht durch, dass ohne die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen während des Militärregimes keine dauerhafte Aussöhnung möglich ist.