Genau genommen reüssiert Benedikt von Peter mit der heute schon so genannten „Basler Fassung“ des im Original über vier Stunden dauernden Meisterwerks, der einzigen Oper des Franzosen Olivier Messiaen. Die bereits vor zwei Jahren geplanten Kürzungen der dreiaktigen Oper konnten jedoch 2020 den Sicherheitsvorschriften nicht mehr genügen. Die 120 von Messiaen vorgeschriebenen Orchester- und 80 Chorstimmen mussten wegen der Corona-Distanzvorschriften drastisch reduziert werden.
Nur drei Monate vor Probenbeginn machte sich daher der argentinisch-französische Komponist und Dirigent Oscar Strasnoy mit einem ganzen Team an die Mammutaufgabe, für Basel noch rechtzeitig eine reduzierte Orchesterfassung zu erarbeiten, was eindrucksvoll gelungen ist. Durch die Reduktion treten die musikalischen Strukturen, welche in sich unangetastet blieben, klarer hervor und wirken andererseits oft sogar weicher, poetischer als das Original.
Der junge deutsche Dirigent Clemens Heil – Benedikt von Peter hat ihn wie auch den Bühnenbildner Márton Ágh aus seiner vorausgegangenen Luzerner Intendanz mitgebracht – behauptete sich eindrucksvoll. Er leitete das auf der Bühne platzierte, reduzierte Basler Symphonieorchester mit eindrücklicher Klarheit und Genauigkeit und liess die musikalischen Stränge dieser über weite Strecken seriellen Musik wirkungsvoll aufblitzen, aber auch empfindsam leuchten.
Mechanismen einer Zeitenwende
Die Arbeit von Benedikt von Peter, dem neuen Intendanten des Basler Dreispartenhauses und gleichzeitig Oberspielleiter der Oper, ist dem Basler Publikum nicht ganz neu. 2009 grub er sich mit seiner eindrücklichen Inszenierung von „Les Dialogues des Carmélites“ von Françis Poulenc tief ins Gedächtnis der Basler Opernfans.
Damals wie heute bewies er einen geschärften, fast unbarmherzigen Blick auf die Mechanismen des Zusammenbruchs einer Gesellschaft, einer Zeitenwende. War es bei Poulenc die Französische Revolution, so ist es bei Messiaen nicht die Rolle des Franziskus innerhalb seiner Auseinandersetzung mit dem Papsttum im 13. Jahrhundert, sondern vielmehr dessen Suchen nach Klarheit, Erleuchtung und Gnade angesichts des unmittelbar drohenden eigenen Todes.
Olivier Messiaen, 1908 in Avignon geboren, war zeitlebens tiefgläubiger Katholik. Er verstand seine Musik immer als gelebte Theologie und seine Kompositionen als klingendes Glaubensbekenntnis. Sein musikalisches Empfinden war synästhetisch, das heisst, er sah in allen Klängen auch Farben. Den seit langem herangereiften Plan, nach seinem ausserordentlich fruchtbaren und erfolgreichen konzertanten Schaffen ein Opernwerk zu verfassen, realisierte er erst, als er erkrankt war und sich dem eigenen Tod nahe glaubte. Acht Jahre arbeitete er an diesem seinem Meisterwerk; er überlebte die Uraufführung an der Pariser Oper von 1983 um ganze neun Jahre.
Den Vögeln zuhören
Messiaen verfasste das Libretto selbst nach den Gesängen des Franziskus und den Schriften anonymer Franziskanermönche aus dem 14. Jahrhundert. Er war aber nicht nur gläubiger Katholik und avantgardistischer Komponist. Seine grosse Leidenschaft gehörte der Vogelwelt, getreu dem Ratschlag seines Lehrer Paul Dukas („Der Zauberlehrling“ u. a.): „Hören Sie den Vögeln zu, das sind grosse Meister.“ Auf ausgedehnten Reisen notierte Messiaen Vogelstimmen und -gesänge und verfasste 1956 mit „Catalogue des oiseaux“ ein umfangreiches Klavierwerk von dreizehn Vogelgesängen in sieben Büchern. Messiaen dürfte wohl der einzige Komponist sein, der sich auf seiner offiziellen Visitenkarte auch als Ornithologe bezeichnete.
Diese Affinität zu Franz von Assisi, der den Vögeln predigte und heute notabene als Schutzpatron von Umwelt und Tieren gilt, ist neben der tiefen Religiosität des Komponisten der zweite Strang dieser grossen Oper. Im ihrem Zentrum steht im sechsten Bild die berühmte Vogelpredigt des Franziskus, in welcher Messiaen in der Einleitung den Gesang von sieben Vögeln (Feldlerche, Misteldrossel, Buchfink, Mönchsgrasmücke, Singdrossel, Amsel und Japanbuschsänger) zitiert. Und sogar, als das Dunkel des Todes François umfängt, tröstet ihn das Wissen, dass nachts Schwester Nachtigall singen wird.
Nur leben die Vögel des Heiligen in der düsteren Basler Szenerie leider nicht mehr. Sie sind alle tot und Franziskus muss sie sich selber formen. Schliesslich wird er von diesen Gebilden geradezu belagert – Hitchcock lässt grüssen. Das geniale Bühnenbild des Ungarn Márton Ágh, das weit in den Zuschauerraum hineinwuchert, versetzt uns in der Handlung von Regisseur und Dramaturg Roman Reeger in eine „Szenerie nach der Katastrophe“ – welcher Art auch immer. Franziskus und seine Mitbrüder leben als Obdachlose in den Überresten einer aufgelösten Zivilisation, fast beziehungslos auf sich selbst zurückgeworfen, ohne Nähe und Wärme. Der Hinweis auf unsere verschärfte Beziehungslosigkeit seit Corona könnte deutlicher nicht ausfallen. Denn jeder in dieser Welt der Ausgegrenzten und Überlebenden kämpft für sich allein.
Kampf um Erlösung und ein Engel
Aber Franziskus kämpft vor allem um seine Erlösung, um einen Zustand der Gnade durch diesen Gott, der „das Nachher, das vorher war“, der „Zeit und Raum, Licht und Farbe erschaffen hat und das Lied des Windes ...“. Einziger Trost in diesem aussichtslosen Kampf, der nur durch den Tod ein Ende finden kann, ist die Lichtgestalt des Engels, der jedoch zuerst in seiner irdischen Gestalt als obdachloses junges Mädchen nicht erkannt wird.
In all diese radikal aussichtslose Szenerie um den grossartigen kanadischen Bassbariton Nathan Berg strahlt die Sopranstimme der jungen Isländerin Alfheiour Erla Guomundsdottir als Engel wie eine Verheissung. Aber auch Rolf Romei als erbarmungswürdiger Leprakranker und die kleineren Rollen der Brüder sind hervorragend besetzt.
Trotz der enormen Spiellänge von immer noch rund dreieinhalb Stunden (mit einer Pause) folgte das Corona-gemäss auf die Hälfte geschrumpfte Publikum atemlos und fasziniert einer Aufführung, welche als „Basler Fassung“ dieser in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Oper sicherlich lange noch ausstrahlen wird.
Saint François d’Assise, Oper in drei Akten und acht Bildern von Olivier Messiaen
Inszenierung: Benedikt von Peter
Musikalische Leitung: Clemens Heil
Bühne und Kostüme: Márton Ágh
Lichtdesign: Tamás Bányai
Sounds: Matthew Herbert
Chorleitung: Michael Clark
Dramaturgie: Roman Reeger
Mit: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Nathan Berg, Rolf Romei, Jason Cox, Paul Cu- rievici, Karl-Heinz Brandt, Andrew Murphy, Paull-Anthony Keightley, Kyu Choi
Nächste Vorstellungen: 21., 24., 28., 30. Oktober