Die USA und die EU «bestrafen» Russland mit Sanktionen. Die letzte verbleibende Supermacht und das europäische Machtgebilde begründen das damit, dass die Weltgemeinschaft das Verhalten Russlands in der Ukraine nicht hinnehmen könne. Es handle sich bei der Annexion der Krim und bei der Unterstützung von Separatisten um Völkerrechtsbruch, um einen Verstoss gegen übergeordnete und allgemein anerkannte Werte und Regeln.
Lassen wir dahingestellt, mit welchem Recht die USA und die EU die Deutungshoheit über diese Begriffe annektieren. Lassen wir auch dahingestellt, wieso angesichts deren supranationalen Bedeutung die grösste Wirtschaftsmacht der Welt, China, nicht zu solidarischer Beteiligung an diesen Sanktionen aufgefordert wird, die neutrale Schweiz hingegen schon.
Was sollen Sanktionen bewirken?
Sondern fragen wir uns: Wenn eine Sanktion, eine Strafe ja etwas bewirken soll, was wäre das dann hier? Im aufgeklärten Verständnis soll eine Strafe einen Regelverstoss ahnden, für andere abschreckend wirken und gleichzeitig den Übeltäter auf den rechten Weg zurückbringen, im Fall eines Freiheitsentzugs in erster Linie resozialisieren. Sonst wäre es ja reine Rache, höchstens alttestamentarisches «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Da aber bislang keine der sanktionierenden Mächte klar formuliert hat, was eigentlich das Ziel dieser Bestrafung sein soll, kann man sich nur in Vermutungen ergehen.
Könnte das Ziel sein, dass Staatspräsident Putin vor die Weltöffentlichkeit tritt und sagt: «Nicht zuletzt, weil es mich persönlich geschmerzt hat, als Paria, Brandstifter oder Verantwortlicher für den Tod unschuldiger Flugzeugpassagiere tituliert zu werden, gebe ich hiermit bekannt, dass die Krim per sofort der Ukraine ausgehändigt, die Unterstützung der Separatisten eingestellt wird und sich Russland an der Behebung der Kriegsschäden beteiligt, damit die Ukraine anschliessend besser aufgestellt in die EU und später in die Nato eintreten kann.»
Eine solche Annahme wäre tatsächlich lachhaft. Ist sie’s, sind es die Sanktionen dann nicht mangels erkennbarer anderer Ziele auch? Nein, sie sind zwar ziellos, aber brandgefährlich. Denn statt den Sanktionsmächten diesen Gefallen zu tun, hat Putin – wie zu erwarten –seinerseits Sanktionen verkündet. Alleine EU-Unternehmen haben im Jahr 2013 Lebensmittel im Wert von mehr als elf Milliarden Euro nach Russland geliefert. Der sofortige Wegfall dieser Exporte wird die EU-Landwirtschaft, vor allem im ökonomisch wankenden Agrar-Staat Frankreich, genauso schmerzlich treffen wie die russische Bevölkerung, da das Riesenreich – unglaublich, aber wahr – mehr als die Hälfte seiner Nahrungsmittel importiert. Aber bereits hat Brasilien angekündigt, gerne und sofort in die Bresche zu springen, und es gibt auch noch andere Produzenten auf der Welt, die noch so gerne ihre Überschüsse mit einem netten Extraprofit exportieren möchten. Und angesichts russischer Devisenreserven von rund 500 Milliarden Dollar muss sich vorläufig auch niemand Sorgen um die Bezahlung machen.
Und die Schweiz?
USA und EU haben ohne Not, ohne nachvollziehbare Begründung und vor allem ohne klare Zielsetzung einen Handelskrieg vom Zaun gebrochen, der vorhersehbar und unweigerlich eskaliert. Jede Seite verfügt über genügend weitere Möglichkeiten, der anderen zu schaden. Ein Überflugverbot für westliche Airlines gegen die Sperrung des Panama-Kanals für russische Schiffe. Dollar- und Euro-Embargo gegen Einstellung von Gaslieferungen. Umlenkung russischer Rohstofflieferungen nach China gegen das Verbot des Marktzugangs für russische Firmen in allen Staaten, in denen die USA oder die EU genügend Einfluss haben. Und dann? Hat irgend jemand eine Idee, wohin das führen soll? Was der Zweck der ganzen Übung ist? Ausser, dass seit dem Kalten Krieg die friedliche Koexistenz von Nuklearmächten und Frieden in Europa niemals so gefährdet war wie heute.
Aber warum in die Ferne schweifen: Wie steht es in all diesem Schlamassel mit der Schweiz? Wie lebt sie ihrer Neutralität nach, wie kann ein Kleinstaat mittelfristig überleben, wenn sich die Big Boys mal wieder raufen? Die kleine, neutrale, mitten in der EU liegende Schweiz, autonom, aber nicht autark. Wenn wir fehlende Strategie und Zielsetzung in diesem Sanktionskrieg bemängeln, können wir doch sicher auf Szenarien, Analysen, Handlungsanleitungen, Strategien, methodisch sauber herausgearbeitet und mit Argumentarien nötige Entscheidungen befördernd, zurückgreifen.
Es gibt doch Heerscharen von wohlbezahlten Spezialisten, Wissenschaftlern, Staatsrechtlern, Neutralitätsforschern, Diplomaten. Sie hatten seit der Zeitenwende von 1989 immerhin 25 Jahre Zeit, sich Gedanken zur Weiterexistenz einer neutralen und souveränen Schweiz zu machen, sei es im Dienste von Universitäten, staatlichen Behörden, der Wirtschaft, Think Tanks oder anderen an dieser lebenswichtigen Frage Interessierten. Schliesslich sprechen wir hier nicht von der Neuordnung der Einwanderungspolitik, dem zukünftigen Verhältnis zur EU oder von Zollvorschriften beim Import von Alphörnern.
Sondern es geht um den dringend nötigen staatsbürgerlichen Diskurs über existenzielle Fragen der Schweiz. Aber nichts ist. Gewurstel herrscht, populistisches Geschrei. Ein Bundesrat, der «derzeit» die Übernahme von EU-Sanktionen ablehnt. Aber sich jederzeit eine neue Lagebeurteilung vorbehält. Fein. Das ist Taktik. Aber wo ist die Strategie? Wo sind die Zielsetzungen, die Mittel und Methoden, um sie zu verwirklichen? Hier unterscheidet sich die Schweiz überhaupt nicht von den sich gegenseitig sanktionierenden Grossmächten. Als Kleinstaat hätte sie aber eine klare Überlebensstrategie viel nötiger.