Minutenlang steht er wortlos am Bühnenrand, den Revolver in der einen, die Wodkaflasche in der andern Hand. Am Ende entscheidet er sich dann doch für den Schnaps. Zum Erschiessen fehlt ihm in seinem Lebensüberdruss die nötige Kraft. So lässt Regisseurin Karin Henkel ihren „Onkel Wanja“ beginnen. In der Person von Siggi Schwientek steht ihr ein Schauspieler zur Verfügung, der von der traurigen Gestalt bis zur schleppenden Diktion alles mitbringt, was es zur perfekten Darstellung dieser vom Leben und der eigenen Unfähigkeit gebeutelten Figur braucht.
Iwan Petrowitsch Woinizki, genannt Onkel Wanja, gibt die depressive Grundstimmung vor, die auf diesem heruntergekommenen, irgendwo in der russischen Weite gelegenen Landgut herrscht. Den lebendigen Kern aber, um den das Figurenkarussell kreist, bildet Sofia Alexandrowna, genannt Sonja, die Tochter des Gutsbesitzers Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow, dessen Auftauchen auf dem Gut den in Lethargie erstarrten Betrieb zum Rotieren bringt. Diese von Carolin Conrad auf anrührende Weise verkörperte Sonja ist eine jener auch bei Tolstoi und Dostojewski anzutreffenden russischen Frauenfiguren, die in ihrer Lauterkeit aufzeigen, was Menschlichkeit in dieser abgewirtschafteten Gesellschaft bedeuten könnte.
Ihre Gegenspielerin ist Jelena Andrejewna (Lena Schwarz), die blutjunge zweite Gattin ihres Vaters: ein exaltiertes, hysterisches Geschöpf, das allen den Kopf verdreht und sich dabei selbst am allerunglücklichsten macht. Ihnen zur Seite stehen die Schwiegermutter des Gutsbesitzers (Nikola Weisse), der frühere Gutsbesitzer Telegin (Alexander Maria Schmidt) und Astrow, der Arzt, Naturschützer und selbsternannte Weltenheiler, dem Markus Scheumann in seiner „Mischung aus Suff und Seele“, wie es einmal heisst, grossartiges Profil verleiht.
Figurenballett
Mit diesen sieben Personen hat Karin Henkel, unterstützt von Stéphane Laimé (Bühne), Aino Laberenz (Kostüme) und Alain Croubalian (Musik), eine Art Figurenballett choreographiert, das realistisch und verfremdet zugleich wirkt und das Geschehen vom Ende des 19. Jahrhunderts in ein überzeitliches Heute transponiert. Die Figuren umkreisen sich, sie ziehen sich an und stossen sich ab, stehen bald eng beieinander, bald weit voneinander entfernt. Sie sind der Inbegriff einer Gesellschaft, die so am Ende ist, dass ihr keine Energie zum Leben, aber auch keine Energie zum Sterben mehr bleibt. Wenn man das Stück sieht, fragt man sich, wie knapp 20 Jahre später von diesem Land eine Revolution ausgehen konnte, die nicht nur Russland selbst, sondern die ganz Welt auf den Kopf zu stellen vermochte.
Tschechow selbst jedenfalls scheint an solche Um- und Aufbrüche nicht geglaubt haben. In einem im Programmheft abgedruckten Brief an seinen Verleger schreibt er: „Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich selbst habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden.“ Arzt, der er neben seiner dichterischen Tätigkeit immer auch war, nennt er diesen Zustand eine „Krankheit, die für einen Künstler schlimmer ist als Syphilis oder Impotenz. Uns fehlt das ‚Etwas’, das ist wahr, und das bedeutet, dass, wenn Sie unserer Muse den Rocksaum hochheben, Sie dort eine flache Stelle sehen werden.“
Nie da, wo sie sind
Schonungsloser ist kaum ein Autor mit sich selbst ins Gericht gegangen. Und schonungslos fällt auch die Diagnose seiner literarischen Figuren aus. Ob im „Kirschgarten“ oder der „Möwe“, ob in den „Drei Schwestern“ oder jetzt im „Onkel Wanja“ – sie leiden alle an ein- und derselben Krankheit: Sie können nicht leben, sind nie da, wo sie sind, träumen sich stets woanders hin, an einen andern Ort, in eine andere Zeit, in ein anderes Leben und verfehlen so alles, was ihrem konkreten Dasein Sinn und Inhalt geben könnte. Es gehörte zu den beklemmendsten Szenen des eindrücklichen Abends im Schauspielhaus Zürich, wenn Wanja und Jelena, Serebrjakow und Astrow über ihr verpasstes Leben, ihre verratenen Ziele und enttäuschten Hoffnungen sinnierten und sich dabei eingestehen mussten, dass sie niemandem Schuld an ihrer verpfuschten Existenz geben konnten ausser sich selbst.
Wenn solches Lamentieren im Publikum gleichwohl den einen oder andern Lacher auslöste, so wohl deshalb, weil Übertreibung auf der Bühne – das wusste schon Molière – stets etwas Lächerliches an sich hat und vom Publikum infolgedessen auch mit Lachen abgestraft wird. Auf diese kathartische Wirkung des Lachens baute auch Karin Henkels kluge Inszenierung, die in ihrer Schonungslosigkeit Tschechow in nichts nachstand und gleichwohl, wie der Autor auch, nie mitleidlos mit den Menschen umging – nicht mit denen auf der Bühne und auch nicht mit denen im Saal.
Es ist Karin Henkels Entscheidung, Sonja in ihrer Inszenierung das letzte Wort zu überlassen und uns mit deren rührendem Bekenntnis zum Glück der reinen Gegenwart doch noch so etwas wie Hoffnung mit auf den Weg zu geben.