Russische X-22-Raketen haben in der Nacht zum Freitag ein Dorf südlich der Schwarzmeer-Stadt Odessa beschossen. Dabei kamen 21 Menschen ums Leben. Die Ukraine spricht von einer russischen Vergeltungsaktion. Am Donnerstag waren die Russen von der strategisch wichtigen «Schlangeninsel», die vor Odessa liegt, vertrieben worden.
Der russische Angriff auf das Dorf Serhijiwka erfolgte am Freitag um 01.00 Uhr Lokalzeit. Nach ukrainischen Angaben wurden die Raketen von russischen Kampfflugzeugen über dem Schwarzen Meer abgeschossen. Die X-22-Geschosse stammen aus der Sowjetzeit. Noch immer suchen Feuerwehrleute nach Menschen in den Trümmern eines neunstöckigen Hauses.
Ukrainische Beamte bringen den Beschuss in Zusammenhang mit den Ereignissen auf der winzigen Schlangeninsel, die etwa 40 Kilometer vor der ukrainischen Küste und etwa 80 Kilometer vor Serhijiwka liegt.
Die Russen waren am Donnerstag von der Insel abgezogen und bezeichneten ihren Rückzug als «Geste des guten Willens», um zu zeigen, dass Russland die Lebensmittelexporte aus der Ukraine nicht behindere.
Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es habe sich um «keinen Rückzug» gehandelt. Die Russen hätten dort einzig «zugewiesene» Aufgaben erfüllt. Nachdem diese erledigt worden sind, seien sie abgezogen.
Himars-Raketenwerfer bei Odessa
Nur glaubt ihnen das ausserhalb von Russland kaum jemand. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die Russen vor den inzwischen in der Ukraine eingetroffenen westlichen Hightech-Raketen fürchten.
Nach unbestätigten Angaben haben die Ukrainer in der Region Odessa einen amerikanischen Himars-Raketenwerfer in Position gebracht. Mit dieser äusserst präzisen Waffe könnten GPS-gesteuerte Geschosse die Schlangeninsel punktgenau angreifen.
«Davongejagt»
Westliche Militärexperten erklären, der Rückzug der Russen von der Schlangeninsel sei das erste konkrete Ergebnis der Lieferung der Himars-Raketenwerfer und der dänischen Harpoon-Schiffsabwehrraketen. Die dänischen Raketen werden offenbar von zwei ukrainischen Ölplattformen, die sich zwischen der Krim und der Schlangeninsel befinden, abgefeuert. Mit dem Eintreffen der neuen Waffen wurde die Situation für die Russen auf der Insel unhaltbar.
«Die Russen sind nicht abgezogen», sagte ein ukrainischer Beamter, «wir haben sie davongejagt.»
Die «Fuck-you-Russland-Insel»
Seit die Insel von den Russen besetzt wurde, ist sie von der Küste aus von den ukrainischen Streitkräften mit türkischen Bayraktar-Drohnen und ukrainischer Artillerie angegriffen worden. Dabei wurden die russischen Flugabwehrsysteme zerstört. Das Moskauer Kommando schien jedoch entschlossen, nicht zu kapitulieren. Doch mit dem Eintreffen der neuen westlichen Waffen hat sich die Situation geändert.
Die Schlangeninsel ist als «Fuck-you-Russland-Insel» in die Annalen dieses Krieges eingegangen. In den ersten Kriegstagen griff die russische Marine mit dem Flaggschiff «Moskwa» die Insel an. Die 82 ukrainischen Soldaten, die sich dort befanden, wurden zur Kapitulation aufgefordert. Der ukrainische Soldat Roman Hrybow antwortete per Funk: «Russisches Kriegsschiff, fuck you». Dieser Satz wurde später zum Kampfruf vieler ukrainischer Einheiten auf dem Festland. Hrybow wurde mit einem Orden geehrt. Auch T-Shirts mit Hrybows Konterfei sind im Umlauf.
Am 12. April 2022 gab die ukrainische Post zwei Sonderbriefmarken aus. Im Hintergrund sieht man die Moskwa und im Vordergrund auf der Insel Roman Hrybow, der den Mittelfinger hochstreckt.
Die Schlangeninsel, auf der es übrigens keine Schlangen mehr gibt, hat eine Fläche von 17 Hektaren (etwa so gross wie 25 Fussballfelder) und je eine Länge und Breite von 660 Metern. Der grosse Felsen ist entscheidend für die Kontrolle der Seewege vom Hafen von Odessa aus. Von hier aus hätten die Russen Getreideschiffe, die von Odessa auslaufen, beschiessen können. Werden jetzt nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte von der Insel Getreide-Exporte möglich?
Ohne eine schlagkräftige ukrainische Marine oder ohne den Schutz türkischer Kriegsschiffe sind die Chancen für Getreide-Exporte wohl gering, denn die Gewässer sind vermint und die Russen behalten nach wie vor die Vorherrschaft im Schwarzen Meer. Moskau verfügt über U-Boote und hat zudem auf der Krim «Bastion»-Raketen mit sehr grosser Reichweite stationiert.
Viel ändert sich nicht
Die Gewässer vor der Küste sind voll russischer und ukrainischer Minen. Die ukrainische Armee fürchtet, dass nach einer Räumung der schwimmenden Sprengsätze die Russen vom Meer aus die Ukraine angreifen könnten. Die Türkei bemüht sich aktiv um eine Einigung sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine, aber die Aussichten auf ein solches Abkommen scheinen derzeit gering.
Die Ukraine wertet den russischen Rückzug als «wichtigen symbolischen und strategischen Sieg». Für Russland sei dies eine peinliche Niederlage. Doch für den Verlauf des Krieges in der östlichen und südlichen Ukraine wird sich wohl wenig ändern.