Die Ukraine betrachtet die 18 Kilometer lange Brücke von Kertsch als «legitimes militärisches Ziel». Eine Zerstörung wäre für Putin und die russische Armee ein schwerer psychologischer und militärischer Schlag.
Die von Russland annektierte Halbinsel Krim gerät mehr und mehr ins Visier ukrainischer Kräfte. In den letzten Tagen explodierten mehrere russische Waffenlager. In Saky wurden mindestens acht russische Kampfflugzeuge zerstört. In Dschankoi stiegen nach Explosionen riesige Rauchwolken in den Himmel. Ob die Attentate von der ukrainischen Armee oder ukrainischen Partisanen durchgeführt wurden, ist eigentlich nebensächlich. Die Anschläge zeigen, dass Russland auf der Krim ein Sicherheitsproblem haben könnte.
Und jetzt dies: Am Freitag soll über der Brücke von Kertsch ein «unbekanntes Flugobjekt» von den Russen abgeschossen worden sein. In ukrainischen sozialen Medien überschlugen sich die Meldungen. Das offizielle Russland berichtete sofort: «Es besteht keine Gefahr für die Brücke».
Haben ukrainische Kräfte die Brücke von Kertsch ins Visier genommen? Ihre Beschädigung oder Zerstörung wäre ein katastrophales Ereignis für Russland. Nicht nur, weil die Strassen- und Eisenbahnbrücke die einzige Verbindung zwischen Russland und der Krim darstellt. Das Bauwerk ist «Putins Kind», sein Vorzeigeobjekt. Die Zerstörung der gigantischen Konstruktion, die über die Insel Tusla und mehrere Dämme führt, hätte einen hohen symbolischen Wert und wäre ein schwerer psychologischer Schlag für Russland.
Die Strassenbrücke war am 16. Mai 2018 von Putin persönlich eingeweiht worden. An Bord eines Lastwagens überquerte er die Meerenge, die das Asowsche Meer und das Schwarze Meer verbindet. Am 23. Dezember 2019 dann folgte die Eröffnung der Eisenbahnstrecke mit Putin im Führerstand eines Diesel-Regionalverkehrszuges.
Bewohner von Kertsch hatten am Freitag von mehreren Explosionen gesprochen. Russische Beamte sagten, eine Drohne sei vom Himmel geschossen worden. Beschädigt wurde das Bauwerk offenbar nicht. Die offizielle Ukraine hat sich nicht zu dem Zwischenfall geäussert. Russland hat mit schwerer Vergeltung gedroht, falls die Brücke angegriffen werden sollte. Die schnelle, nervöse Reaktion aus dem Kreml macht deutlich, wie wichtig das Bauwerk für Russland ist.
«Freiwillig oder nicht freiwillig»
Die Ukraine betrachtet die Strassen- und Eisenbahnbrücke als «illegal». Mykhailo Podolyak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten, sagte, die Brücke sei «ein legitimes Ziel».
«Diese Brücke ist ein illegales Objekt, für dessen Bau die Ukraine keine Genehmigung erteilt hat», schrieb Podolyak auf Twitter. «Sie schadet der Ökologie der Halbinsel und muss daher abgerissen werden. Es ist nicht wichtig, wie – freiwillig oder nicht freiwillig.» «Brücken sind immer verwundbar», erklären ukrainische Militärstrategen.
Laut ukrainischen Berichten haben die Russen rund um die Brücke Raketen in Stellung gebracht, die «mysteriöse Flugobjekte» abschiessen könnten. Zahlreiche Radarreflektoren seien eingebaut worden. Doch Gefahr droht nicht nur von «Flugobjekten», sondern auch von pro-ukrainischen Partisanen, die auf der Halbinsel zunehmend aktiv sind.
Fluchtbewegung
Der Vorfall am Freitag lenkt die Aufmerksamkeit auf eines der meistbeobachteten potenziellen Ziele im Visier der Ukraine. Die Explosionen der letzten Tage machen deutlich, dass die Ukraine begonnen hat, Chaos auf der Krim zu säen. Dies ist gelungen. Tausende Bewohnerinnen und Bewohner der Krim haben in den letzten Tagen die Flucht ergriffen – und zwar über die Brücke von Kertsch. 38’000 Autos seien kürzlich an einem einzigen Tag über die Brücke Richtung Russland gefahren, berichten ukrainische Beamte.
Die Brücke hat für Russland wichtige militärische und strategische Bedeutung. Ein grosser Teil der Waffen, die die Russen in der Südukraine einsetzen, werden über die Brücke von Kertsch transportiert. Eine Zerstörung des Bauwerks würde den russischen Nachschub stark gefährden. Das könnte sich auf die Kämpfe rund um die südukrainische Stadt Cherson auswirken.
Hundert Jahre Pläne
Die Meerenge von Kertsch hatte lange Zeit mythische Bedeutung. Die alten Griechen nannten sie den «Kimmerischen Bosporus».
Putin war gelungen, was Politikern, Planern und Herrschern über hundert Jahre lang nicht gelang. Immer wieder gab es Pläne, eine Brücke über die Meerenge zu bauen. Schon Zar Niklaus II. beauftragte Ingenieure mit Studien. Der Schiffsbauingenieur Wassili Mendelejew machte Anfang des 20. Jahrhunderts den Vorschlag, die Meerenge mit einem Damm zu queren. Der Zweite Weltkrieg machte weit gediehene sowjetische Bemühungen zunichte, eine Krim-Brücke zu konstruieren.
Stalin auf der Rückfahrt von Jalta
Im Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen die Krim erobert. Sie waren es, die sich an den Bau einer Brücke machten – kombiniert mit einer Fährverbindung. Ziel war es, die deutschen Truppen auf der Ostseite der Strasse von Kertsch zu versorgen. Nachdem sie von den Sowjets zurückgedrängt wurden, sprengten sie die sich im Bau befindliche Brücke.
Noch während des Krieges reparierten sowjetische Bautrupps die Brücke. Ab November 1944 fuhren wieder Züge über die Viadukte. Doch dann, nach nur drei Monaten, geschah das Unglück. Eisschollen bewegten sich auf die Brücke zu. Am 18. Februar 1945 zerstörte das Eis 42 Pfeiler. Wenige Tage vor dem Einsturz hatte Josef Stalin die Brücke überquert. Er hatte mit Roosevelt und Churchill an der Konferenz von Jalta teilgenommen und befand sich auf dem Rückweg nach Moskau.