Die ukrainische Offensive bei der südukrainischen Stadt Cherson stockt. Jetzt haben die Ukrainer die dritte Brücke über den Dnjepr «funktionsuntüchtig» geschossen. Damit sind Tausende Russen von den Nachschublinien fast abgeschnitten. Doch für eine gross angelegte ukrainische Gegenoffensive ist es zu früh.
Die russischen Streitkräfte besetzen ein Gebiet westlich des Dnjepr. Versorgt wurden sie von Osten her: von der russisch besetzten Krim und dem Donbass. Der Nachschub erfolgte über drei Dnjepr-Brücken: Zwei der Übergänge, die Strassenbrücke bei Cherson und eine Eisenbahnbrücke nördlich davon, wurden schon im Juli durch amerikanische Himars-Raketen schwer beschädigt.
Jetzt griffen die Ukrainer die dritte Brücke an: die Eisenbahn- und Strassenbrücke, die über den Kachowka-Staudamm führt.
Natalija Humenjuk, die Sprecherin des ukrainischen Militärkommandos Süd, erklärte am Wochenende, alle drei Brücken seien jetzt «funktionsunfähig». Damit sind Tausende russischer Soldaten westlich des Flusses eingekesselt.
«Wir sind uns darüber im Klaren», sagte Natalija Humenjuk an einer Medienkonferenz, «dass die Besatzer auf diese Verkehrsadern angewiesen sind, um weiterhin Reserven, Munition und militärische Ausrüstung heranzuschaffen.»
Die Russen sind dabei, die Brücken zu reparieren, müssen jedoch mit einem weiteren ukrainischen Beschuss rechnen. In aller Eile haben sie Pontonbrücken und einen Fährbetrieb eingerichtet. So können jedoch nur geringe Mengen an Nachschub transportiert werden – vor allem kein schweres Kriegsmaterial.
Die Rückeroberung von Cherson, einer früher fast 300’000 Einwohner zählenden Stadt am Ufer des Dnjepr, wäre eine schwere politische und militärische Niederlage für die Russen. Moskau hatte bereits begonnen, Teile der Südukraine, inklusive Cherson, ins russische Staatsgebiet zu integrieren. Ukrainische Pässe werden gegen russische getauscht. Zudem wurde der Rubel als Zahlungsmittel eingeführt.
Noch ist die Stadt fest in russischer Hand. Doch immer wieder schlagen ukrainische Untergrundkämpfer zu. Der von Russland eingesetzte Statthalter der Stadt wurde nach Angaben der New York Times vergiftet. Andere pro-russische Beamte, Politiker und Kollaborateure entgingen Anschlägen nur knapp.
Enttäuschung macht sich breit
Auch wenn jetzt die Russen eingekesselt sind: Die Zeit für eine ukrainische Gegenoffensive ist noch nicht da. Nach wie vor verfügen die Moskauer Streitkräfte westliche des Dnjepr über Hunderte Artilleriestellungen, Raketen und tonnenweise Munition. Ein ukrainischer Angriff käme einer Selbstmord-Aktion gleich.
So verharren denn die ukrainischen Truppen in den Schützengräben nahe der Stadt Mykolajiv. Da und dort macht sich Enttäuschung breit, dass die ukrainische Offensive ins Stocken geraten ist.
«Sie müssen noch ein wenig warten»
Generalmajor Dmytro Marchenko, der Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte in der Region, dämpft Erwartungen, dass die Ukrainer bald losschlagen werden. Er könne keinen Zeitplan für die erwartete Offensive nennen.
«Ich möchte den Menschen in Cherson sagen, dass sie ein wenig Geduld haben», sagte er. «Wir haben sie nicht vergessen, niemand wird unser Volk im Stich lassen, und wir werden kommen, um ihnen zu helfen, aber sie müssen noch ein wenig warten.»
Himars genügt nicht
Warten worauf? Warten, dass den Russen westlich des Dnjepr die Munition und die Nahrungsmittel ausgehen? Warten vielleicht auch darauf, dass die Moskauer Truppen den Rückzug antreten? Das sind zumindest jetzt nur Wunschvorstellungen. Meldungen, wonach russische Kommandanten die Region Cherson bereits verlassen haben, können nicht bestätigt werden. Gehören sie zur psychologischen ukrainischen Kriegsführung?
Zwar haben die Ukrainer jetzt die von den USA gelieferten hochmodernen und präzisen Himars-Raketenwerfer (High Mobility Artillery Rocket System) in Stellung gebracht. Diese haben den Russen schweren Schaden zugefügt. Es gelang den Ukrainern, die Nachschublinien zu unterbrechen und die russischen Waffenlieferungen zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Doch das reicht nicht. «Wir haben noch immer zu wenig schwere Waffen, um die russische Überlegenheit zu kontern», sagt ein Militärsprecher.
Beide Seiten rüsten auf
Auf ukrainischer Seite setzt sich die Erkenntnis durch, dass wesentlich mehr schweres Material und mehr Truppen hergeschafft werden müssen, um einen Angriff zu wagen – Truppen, die aus dem Donbass abgezogen werden müssten, was dort fatale Auswirkungen haben könnte.
Doch auch die Russen reagieren. Auch sie bringen mehr Truppen und militärisches Material in den Süden. Natalija Humenjuk erklärt, dass die Russen in Erwartung eines ukrainischen Angriffs dabei seien, Mykolajiw, Nikopol und Marhanez (gegenüber dem AKW Enerhodar) mit Raketen anzugreifen.
Neue russische Offensive?
Die Frage ist nun, wie lange halten die Russen westlich des Djepr durch. Wie stark werden sie durch ihre momentane Einkesselung geschwächt? Starten sie mit frischen Truppen eine Grossoffensive Richtung Westen, Richtung Mykolajiv oder Richtung Norden, Richtung Krywyj Rih? Das wäre schwierig.
Das Warten auf die ukrainische Offensive bedeutet nicht, dass nichts geschieht. Entlang der Front um Cherson wird heftig geschossen, Artilleriebatterien beschiessen sich, täglich sterben Soldaten auf beiden Seiten.
Eine der wichtigsten Schlachten
Die Ukrainer sind sich bewusst, dass ihnen eine schwere Schlacht bevorsteht, denn die Russen werden alles versuchen, Cherson zu halten. Man rechnet mit Strassenkämpfen mit Hunderten Toten wie damals in Sewerodonezk.
Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Für die Ukrainer wäre die Rückeroberung der Stadt der erste grosse militärische Sieg dieses Krieges, mit weitreichenden psychologischen und militärischen Konsequenzen. Umgekehrt könnten sich die Russen nicht erlauben, diese symbolisch so wichtige Stadt wieder preiszugeben. Die Schlacht um Cherson könnte zu einer der wichtigsten Schlachten dieses Krieges werden.