In den letzten zwanzig Jahren hat der atemberaubend schnelle Aufstieg Chinas zur globalen Wirtschaftsmacht den Schwerpunkt der sicherheitspolitischen Entwicklungen in den Grossraum Asien-Pazifik verschoben. Was der Nordatlantik für das 20. Jahrhundert war, wird der Westpazifik und der Indische Ozean – also ein breites Band von Alaska und Sibirien bis hinunter zu Australien und der Südspitze Indiens – für das 21. Jahrhundert sein. Dort werden die sicherheitspolitischen Einflusssphären der Anrainer vermehrt direkt aufeinandertreffen. Ein Brennpunkt der Aufrüstung liegt denn auch bei den Seestreitkräften.
Die USA wenden sich Asien zu
Von speziellem Interesse für Europa, und damit auch die Schweiz, ist die Tatsache, dass die USA dieser Entwicklung zunehmend Rechnung tragen. Einer der wichtigsten und potentiell folgenschwersten aussenpolitischen Entscheide der Obama-Administration war die Einleitung des Asian Pivot, der Hinwendung zu Asien. In Zahlen fällt sie bislang relativ bescheiden aus; zudem wird ihre Durchführung und Ausweitung immer wieder gebremst durch den Ausbruch von Krisen anderenorts, speziell im Mittleren Osten und mit der Ukraine auch in Osteuropa.
Das verlangsamt zwar die Neuausrichtung der USA als pazifischer Macht, ändert aber nicht aber die Stossrichtung. Obama hat nach der Annexion der Krim durch Moskau mehr Geld und eine geringe Erhöhung der amerikanischen Militärpräsenz an der europäischen Ostgrenze der Nato, damit de facto auch der Ostgrenze der EU, in Aussicht gestellt. Gleichzeitig ist aber allen Europäern klar, dass sie in der Zukunft, ungeachtet nationaler Sparmassnahmen, mehr zur Absicherung Europas gegenüber Russland werden beitragen müssen.
Europäische Sicherheitspolitik
Offen ausgesprochen wird dies im Moment erst von den direkt Betroffenen. So hat sich Polen gewandelt vom überzeugten Atlantiker zum feurigen Befürworter einer europäischen Aussen- und Sicherheitspolitik (Gasp), die auch Zähne haben soll. Dies nicht, weil das Land sein Vertrauen in Washington verloren hätte, sondern es liest die Zeichen an der Wand. Die USA, mit weniger Ressourcen (Budget) und mit schlechten Erfahrungen (Afghanistan, Irak), können und wollen die zunehmend schwierigere und grössere Rolle des Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, nicht mehr länger allein wahrnehmen. Zumindest in seiner Nachbarschaft wird Europa zunehmend selbst Verantwortung tragen müssen.
Zu diesem europäischen Umfeld gehört nicht nur Osteuropa, sonden auch ein guter Teil von Afrika. Dessen notorische Krisen und Konflikte sind begleitet von unakzeptablen Menschenrechtverletzungen und wirken sich bekanntlich verzugslos auf die Immigrantenströme über das Mittelmeer aus.
Frankreich hat dies erkannt, wie es in Mali und anderenorts bereits gezeigt hat. Natürlich ist dies auch eine Weiterführung traditioneller französischer Afrikapolitik. Ihr Hauptzweck ist heute aber ein anderer. Es geht um einigermassen geordnete Verhältnisse an der gesamten Peripherie Europas, der grössten Wirtschaftsmacht der Welt, welche sich aber bislang nicht zu einer gemeinsamen Verteidigung der ureigenen Interessen hat zusammenraufen können.
Notwendige Integration Europas
Indes hat zehn Jahre vor Einführung der Einheitswährung Euro auch kaum jemand an die Machbarkeit der im Moment real entstehenden Finanz- und Fiskaleinheit Europas geglaubt. Heute ist der Euro mit all seinen Konsequenzen zwar keinesfalls eine ideale Lösung, aber allemal besser als jede Alternative, einschliesslich einer Rückkehr zu Nationalwährungen. Sie würde in der heutigen «flachen Welt» Europas zu schweren wirtschaftlichen Verwerfungen und Chaos in der Binnenwanderung führen.
Dies werden auch jene törichten Engländer – Schotten, Waliser und Nordiren sind als Minderheiten meist überzeugte Europäer – einsehen müssen, welche mit dem «Brexit» liebäugeln. Dieser wäre ein Unsinn, allein schon weil Grossbritannien Europa wirtschaftlich, und die EU umgekehrt das Vereinigte Königreich politisch – insbesondere sicherheitspolitisch – absolut nötig haben. Alle vernünftigen Briten, darunter die grosse Mehrheit der Wirtschaft und ihre engsten Partner in Europa und Nordamerika, beschwören Premierminister Cameron, vom populistischen Irrweg der EU-Austrittskoketterie wieder auf den Tugendpfad grösserer europäischer Integration zurückzukehren.
Speziell wichtig sind dabei die unmissverständlichen Aussagen von Präsident Obama, welcher Cameron laut hörbar zurief: «We want you inside the EU!» Dies nicht zuletzt auch als neben Frankreich zweite von der Vergangenheit nicht belastete Militärmacht Europas. Das kommt einer bemerkenswerten Kehrtwendung gleich, hatte sich doch noch vor wenig mehr als zehn Jahren der Verteidigungsminister von George W. Bush, Donald Rumsfeld, dezidiert gegen eine Stärkung der sicherheitspolitischen Strukturen der EU ausserhalb der Nato gewandt.
Zusammenarbeit von Nato und Gasp
Aber auch sein durchaus erhebliches Potential kann das Vereinigte Königreich mit Blick auf die erwähnten globalen Schwergewichtsverschiebungen allein im Konzert mit seinen europäischen Partnern nutzbringend einsetzten. Nur im europäischen Verbund wird sich London seinen historischen Platz am Tisch der Grossmächte auch im 21. Jahrhundert sichern. Was aber für Grossbritannien gilt, trifft in noch viel höherem Masse für einen Staat wie die Schweiz zu.
Heute geht es nämlich zunächst um die Substanz, das heisst um sicherheitspolitische Aufwendungen jedes einzelnen europäischen Landes. In welche Struktur sich diese Substanz dann einfügen lässt, ist von sekundärer Bedeutung. In den kommenden Jahren wird sich wohl eine duale Zusammenarbeit von Nato und Gasp niederschlagen. Dies ist wie vieles im europäischen Haus zwar nicht ideal, aber doch wohl die beste Lösung in einem von Geschichte und von schlimmen nationalistischen Erfahrungen geprägten Kontinent.
Gemeinsame Verteidigung statt Neutralität
Genau hier liegt denn auch die Chance für die Schweiz, sich aus ihrer im 20. Jahrhundert erfolgten sicherheitspolitischen Abnabelung zu befreien und in die europäische Geschichte zurückzukehren. Entgegen dem landläufigen Klischee eines neutralen Sonderweges der Schweiz «seit jeher» ist die Neutralitätsphase im Ersten und dann wieder im Zweiten Weltkrieg – dazwischen war die Schweiz einmal volles Mitglied der kollektiven Sicherheitsorganisation Völkerbund – und schliesslich während des Kalten Krieges als Ausnahme zu betrachten und nicht etwa als Regel. Die Schweizergeschichte ist übers Ganze gesehen eher von Raufbolden als von Friedensengeln geprägt.
Chance für die Schweiz also, ihre sicherheitspolitische Substanz neu auszurichten mit primärem Blick nicht auf Luftpolizei für «Davos» und Katastrophenhilfe im In- und Ausland, sondern auf die vielzitierte Interoperationalität. Das bedeutet die Möglichkeit zur Einfügung in ein grösseres Ganzes im Krisenfall, die enge Zusammenarbeit mit den Streitkräften unserer Partnerländer. Wenn einmal der isolationistische Nebel der Gotthardverteidiger weggeblasen ist, wird augenfällig warum kein einziger Grund die Schweiz daran hindert, wie vergleichbare Länder – so etwa Holland, Schweden (bis 1990 neutral), Belgien (bis zum deutschen Überfall 1940 neutral) oder Österreich (bis 1990 neutral) – an europäischer Sicherheitspolitik aktiv teilzuhaben.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf einen etwaigen sowjetischen Vorstoss im Oberrheintal bei Sargans aufgebaute Schweizer Armee – der Schreibende hat dies inmitten des Kalten Krieges als Offizier der Gebirgsinfanterie selbst noch erfahren – bedarf dringend einer neuen Rechtfertigung. Sie hat im Moment keine. Unser Sohn hat vor wenigen Jahren zehn Monate Langzeitausbildung als Infanterist meist als Wachsoldat vor ausländischen offiziellen Vertretungen verbracht.
Globales Geben und Nehmen
Als sicherheitspolitischer Akteur kann die Schweiz nur durch Tatbeweis darauf hoffen, international ernstgenommen zu werden, um allenfalls auch einmal von dieser Seite her ins übliche Tauschgeschäft der internationalen Beziehungen einzugreifen. Ein asiatisches Beispiel, aber mit direktem Bezug auf die Schweiz, mag zeigen, was das bedeutet. Als Botschafter in Singapur wurde ich oft gefragt, warum eigentlich die USA in fiskalpolitischer Hinsicht mit der Schweiz härter umspringen würden als mit meinem damaligen Gastland. Die Antwort war im kleinen Stadtstaat buchstäblich naheliegend. Keine zehn Kilometer von den in immer rascherem Tempo dem Himmel entgegenstrebenden Bankgebäuden des Finanzplatzes Singapur, direkte Konkurrenz von Zürich und Genf, lag meist ein amerikanischer Flugzeugträger mit seiner Begleitflotille vor Anker, unterwegs vom oder in den Persischen Golf mit den amerikanischen Basen in Kuwait, Bahrein und Katar.
Solche umfassende Berthing Rights mit den entsprechenden Kosten für Anlagen – welche der Kleinstaat für sich selber nicht brauchte, wohl aber die USA im Zuge der zwei Irakkriege – waren für das pragmatische Singapur ein Trumpf im internationalen do ut des, im gegenseitigen Geben und Nehmen, das die Basis aller internationalen Beziehungen bildet.
Neutralität hat ihre Zeit gehabt
Höchste Zeit also, die Perspektive auf die schweizerische Neutralität umzukehren und in internationaler Sicht einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Als nämlich 1815 am Wiener Kongress erstmals von schweizerischer Neutralität die Rede war, meinte dies ausschliesslich ein nützliches Mittel für den Friedenserhalt im damaligen Europa. Heute braucht Europa andere Mittel, um in seinem Osten und vor allem an seiner Peripherie Frieden, einigermassen geordnete Zustände und eine auf der Würde des Einzelnen aufgebaute Politik zu fördern und zu unterstützen.
Die Schweiz wird gut daran tun, als mittlerer europäischer Staat – rund ein Dutzend der europäischen Länder sind kleiner, und alle bis auf eine Handvoll von Grossstaaten sind ärmer als die Schweiz – zur Erreichung dieser Ziele beizutragen. Unser Land wird sonst nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an den Rand Europas gedrängt werden. Für ein Land, in dem drei der sechs grossen Sprachgruppen und Kulturen Europas seit jeher und die drei anderen durch Immigranten seit Jahrzehnten zu Hause sind, ein wohl unerwünschtes Schicksal.
Der 1. Teil dieses Beitrags ist am 3. Oktober unter dem Titel "Abschied von einer Leerformel" erschienen.