Ich hatte das Schlimmste befürchtet. Der Sommer in der Schweiz war gespickt mit Hiobsbotschaften aus Indien: Die Inflation in neuer Rekordhöhe, Höchstpreise bei Grundnahrungsmitteln, das Staatsdefizit ausser Kontrolle, die Rupie-Währung auf Talfahrt, eine Unwetterkatastrophe im Himalya mit mehr als fünftausend Toten, tägliche Berichte von Vergewaltigungen, Kapitalflucht, Korruptionsskandale, eine Zuspitzung von Bauern-Selbstmorden; und statt zu investieren, hortet das Publikum Gold, auch wenn es teurer ist als überall sonst auf der Welt.
Nur bei der letzten Schlechtwetter-Nachricht hatte ich aufgehorcht: Natürlich wäre es sinnvoller, räsonnierte ich, wenn die Leute Aktien kaufen würden. Aber kann es einer Gesellschaft so schlecht gehen, wenn sie Gold kauft? Oder ist es Angst, die die Leute ins Edelmetallgeschäft treibt? Schliesslich sind die indischen Haushalte schon seit langem die grössten Besitzer von Gold weltweit, und die gehorteten 31‘000 Tonnen (mit einem aktuellen Wert von 1400 Milliarden Dollars) sollten eigentlich genügen als Polster für unsichere Zeiten.
Wer will schon investieren in Indien
Die Ankunft in Bombay folgte dem Schlechtwetterskript, buchstäblich und metaphorisch. Für die effizienten Gepäck- und Personenkontrollen machte ich noch ungnädig den Rückgang des Ferien- und Geschäftstourismus verantwortlich. Wer will schon in Indien investieren, wenn die Inder selber ihre Matratzen einem Bankkonto vorziehen? Und draussen regnete es in Strömen, die zehnjährige Baustelle namens ‚Indira Gandhi International Airport‘ drohte im Matsch zu versinken.
Aber trotz nächtlicher Stunde und Trommelregen sah ich in den Gerüsten Männer in Pelerinen herumhantieren, Lastwagen mit Betonmixern luden und entluden ihre Ladungen, und unter dem Plastik-Vordach eines Chai-Shops kauerten Leute, schwatzten und tranken Tee. Kaum hatte sich mein Taxi, es war inzwischen fast Mitternacht, in den starken Verkehrsstrom des ‚Western Expressway‘ Richtung Stadt eingefädelt, sah und hörte ich bereits die erste Prozession. Der Verkehr zog an ihr vorbei, zuhinterst eine Grüppchen von Gläubigen, dann die auf mehreren Schultern hin- und herschwingende Ganesh-Statue, vorne dann einige Tänzer und zwei Trommler. Es hätte ein heiterer Sonnentag sein können, so wenig schien sie alle der strömende Regen zu bekümmern. Nur Ganesh hatte sich einen Regenschutz über Rüssel und Kopf gezogen – schliesslich war er geschminkt, und ein goldener Schal glitzerte unter der dünnen Plastikfolie hindurch.
Die Elefantengötter, die den Kopf anschlagen
In den nächsten zwei Tagen, den letzten des zehntägigen Fests des Elefantengotts, sah ich dann noch zahlreiche solche Gruppen. Sie alle zogen mit peinvoller Langsamkeit und demselben ohrenbetäubenden Lärm unter meinem Fenster vorbei, Richtung Meeresstrand. Sie unterschieden sich nur in der Grösse und Farbigkeit des Idols. Manchmal mass Ganesh keine dreissig Zentimeter, ein Hinweis, dass er seine letzte Reise wohl im Hausaltar einer Familie begonnen hatte, um am letzten Tag dann im Wasser versenkt zu werden. Dann wieder kam er mit imposanten zwei Metern Gardemass daher, auf dem Weg von einem der mehreren tausend Altäre oder ‚Pandals‘, welche Quartier-Komitees in wochenlanger Arbeit aufgebaut hatten.
Genauso wie bei den Fastnachtscliquen in Basel herrscht auch bei den Ganpathi-Komitees in Bombay intensive Konkurrenz um die beste Performance. Hier geht es darum, den grössten, teuersten und attraktivsten Ganesha aufzustellen. Aus den dichtbesiedelten Hindu-Quartieren hinter der Chowpatty-Bucht wurden Statuen getragen, die von echten Edelsteinen übersät waren, oder es lagen kilogrammschwere Replika der Wünsche reicher Verehrer zu ihren Füssen – ein Haus, oder ein Auto, oder eine Krippe, Alle aus purem Gold. Nachdem im letzten Jahr mehrere Ganeshas in der Prozession zum Strand unter einer Brücke den Kopf angeschlagen hatten, hatte die Polizei heuer die Grösse – wenn auch nicht den Umfang – des beleibten Gotts auf 25 Fuss, fast acht Meter, limitiert. Und wie es sich für ein rekordhöriges Publikum gehört – und sei's drum, wenn es Negativ-Rekorde sind – strömte es zu den schönsten. Am vorletzten Tag wurden mehrere Millionen ‚Devotees‘ rund um den Lalbagh-Raja gezählt, einem traditionellen Kronfavoriten.
Mit Krisen umgehen können
Ich schaute mir im Fernsehen das Chaos in Lalbagh an und sah, wie weder der Regen noch die Bambusstöcke der Polizei, die einem Politiker oder einem Bollywood-Star den Weg freischlugen, noch die feststeckenden Busse, noch die Angst um die Kinder zwischen den Tausenden von nassen, dreckigen Beinen Panik auslösten. Im Gegenteil, sie schienen es zu geniessen, in grossen Wellen hin und hergeschoben zu werden, als wären sie in Trance, wenn sie sich nur dem Gottesbild zu nähern vermochten, das von einer Phalanx von freiwlligen Helfern geschützt wurde. Sie konnten froh sein, überhaupt einen Blick auf ihn zu erschnappen, bevor sie von der Wand von Leibern weitergeschoben und schliesslich in einer Seitengasse ausgespieen wurden. Je dichter das Gedränge, der Schmutz, der Lärm, umso besser, schien die Losung zu lauten.
Es könnte auch der Schlüssel sein für die scheinbare Unbekümmertheit, mit der Indien einer Krise begegnet, die vom Paradiesgarten der Schweiz aus – amplifiziert durch die selektive Berichterstattung unserer Medien – wie eine Katastrophe aussieht. Die Leute hier sind sich Krisen nachgerade gewohnt, und sie gehen mit ihnen so um, wie sie frühere bewältigt haben. Sie nehmen sie zur Kenntnis, versuchen ihnen zu begegnen, aber halten gleichzeitig an ihren Lieblingsgewohnheiten fest, weil sie wissen, dass nur diese ihnen die psychologische Stabilität geben, um darüber hinwegzukommen.
Die Regierung und die Zwiebelschale
Das heisst nicht, dass sie sich ihnen blind anheimgeben. Sie nehmen sie, wach und besorgt, zur Kenntnis, und kaufen eben, wenn noch irgend möglich, ein paar Gramm Gold. Sie mögen im Stillen oder beim Chai mit Freunden den Kopf darüber schütteln, wie reiche Leute das Vielfache ihres eigenen Lebensverdienstes in einer einzigen Geste über eine Götterstatue aus Gips giessen können. Aber was bringt es, sich darüber aufzuregen – wer weiss, vielleicht bekommt man etwas von der Gunst Ganeshas ab, wenn er so reich beschenkt wird. Es ist wie eine Spielart von Blaise Pascals Wette: Wir wissen zwar nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber es ist logischer, daran zu glauben; denn es kostet uns nichts, sollte es keins geben.
Hätten sie selber über genügend Gold verfügt, hätten sie vielleicht eine goldene Zwiebel Ganesh zu Füssen gelegt. Denn das ist es, was sie in diesen Tagen viel mehr umtreibt als ein achtstündiges Warten im Regen, um Ganeshs Blick zu erhaschen. Die bescheidene Frucht hat es in den letzten Wochen in die Schlagzeilen geschafft, seitdem sich ihr Wert innerhalb von Wochen verdoppelt hat. Zwar wird dieser immer noch in Kilogramm und nicht in Unzen verhandelt, aber achtzig Rupien – im depressiven Wechselkursregime so viel wie Fr. 1.20 – sind für ein Grundnahrungsmittel ein unanständig hoher Preis. Und wenn sich die Regierung nicht vorsieht, könnte es gut sein, dass sie bei den nächsten Wahlen auf einer Zwiebelschale ausrutscht. Womit der Gott, der Hindernisse aus dem Weg räumt, wieder einmal bewiesen hätte, dass er seiner Reputation gerecht geworden ist.