Dem indischen Premierminister ist es – zuletzt mit der G-20 Präsidentschaft – gelungen, das Bild eines starken und prosperierenden Landes zu zeichnen. Die Kontrolle über die E-Medien und das «Management» der ökonomischen Daten soll die dunkle Seite des Mondes vergessen machen.
Die Rückkehr nach Indien, zumal nach Mumbai oder Delhi, wirkt selbst nach nur sechs Monaten Abwesenheit wie ein Zeitraffer. Man geht durch neue Ankunftshallen, unbekannte Zubringer führen in die Stadt, und die Skyline, so sie denn im Smog zu erkennen ist, hat wieder ein paar zusätzliche Zacken erhalten.
Modis Glitzerbild von Indien
Es ist, als könnten Modis Oligarchen das Land im Namen des Fortschritts endlich zubetonieren, und dies im chinesischen Eiltempo und ohne viel Federlesens. Das populistische Genie des Premierministers nutzt derweil die endlosen Laufmeter von Bauzäunen, um sein Konterfei als Landesvater und globaler Staatsmann millionenfach auf die Netzhaut der Autofahrer zu brennen.
Doch diesmal kamen wir über die Hintertür ins Land und fielen dem Glitzerbild von Modis Indien in den Rücken. Umständehalber landeten wir in dessen Hinterhof im fernöstlichen indischen Bundesstaat Westbengalen, nur einige Dutzend Kilometer von Bangladesch entfernt. Und wir entdeckten ein Land, das, auf eine verstörende und beglückende Art, immer noch das alte Indien war.
Statt grellen Lichtschlangen breiteten sich vor uns endlose Reisfelder aus, wir fuhren (meist im Schritttempo) durch Basare, in denen sich Fahrräder, Rikschas, Busse, qualmende und ein Gewimmel von Menschen verkeilten – etwa wenn ein Mann einen Karren mit zwölf Meter langen Bambus-Stangen über eine Kreuzung bugsieren wollte.
Tuk-Tuks mit Elektromotoren in Westbengalen
Es war wie vor vierzig Jahren, als Westbengalen noch halb so viele Menschen zählte und Besucher bange fragen liess, wie es wohl … in vierzig Jahren aussehen würde. Heute zählt der Bundesstaat mit der doppelten Fläche der Schweiz über hundert Millionen Einwohner. Doch in den Kleinstädten weit im Norden von Kolkata waren zwischen den verwitterten Ziegelgebäuden und Bambushütten kaum moderne Bürogebäude auszumachen, und im weiten Grün des Landes liessen sich weder Fabrikschlote noch industrielle Fertigungshallen blicken. Es fehlten auch die SUVs, die auf IT-Spezialisten irgendwo im Home Office hinweisen würden. Allerdings hatte sich die Qualität der Strassen im Allgemeinen verbessert, und statt der früheren Schlaglöcher des Nachmonsuns waren es nun zahllose «gendarmes couchés», welche die Fahrt zu einer Rumpel-Tour machten.
Auch mitten im Getümmel und dem ohrenbetäubenden Lärm der Bazare konnten wir – fast wie eine Fata Morgana – vierschrötige Tuk-Tuks lautlos vorbeigleiten sehen. Sie hatten unter dem alten Metallgestell Elektromotoren mit Akkus eingebaut. Und einige «Rikshawallahs» sassen trotz prallvollen Reissäcken im Passagiersitz auf ihren Sätteln, als machten sie eine Spazierfahrt.
Vor gut 250 Jahren hatten die Engländer hier zur kolonialen Eroberung Indiens angesetzt. Das ländliche Bengalen war eine Goldgrube, weil das fruchtbare Schwemmland des Ganges ein Füllhorn von Reis war. Dessen drakonische Besteuerung finanzierte spätere Militärkampagnen und verhalf den Raubrittern zuhause im fernen England zu Herrschaftssitzen und dem Kauf von Adelstiteln.
Heute ist Reis immer noch der Motor, der die lokale Wirtschaft antreibt. Statt Steuergelder abzuwerfen, muss er aber subventioniert werden. Und er macht ausser den Mittelsmännern niemanden mehr reich. Gäbe es nicht die staatlichen Preisstützen und der Rückfluss von Arbeitslöhnen aus dem Mittleren Osten (vor allem aber die bodenlose Selbst-Ausbeutung der Gelegenheitsarbeit!), müssten bei der nächsten schwachen Ernte viele Menschen hungern.
Bildung und handwerkliches Können
Shabnam Ramaswamy hellt dieses düstere Szenario etwas auf. Sie hat in ihrem Dorf Katna eigenhändig (und dank Unterstützung aus dem In-und Ausland) eine Schule aufgebaut, die inzwischen 740 Kindern einen Abschluss bietet – und dies mit Englisch als Unterrichtssprache. Selbst in diesem wirtschaftlichen Abstellgeleise sind die meisten Eltern heute überzeugt, dass nur Schulunterricht – und die englische Sprache – der nächsten Generation ein besseres Leben bescheren wird.
Shabnam hat zudem bewiesen, dass Armut Intelligenz und handwerkliches Können nicht aufzuhalten vermag. Die Dorffrauen mögen bettelarm sein, sie beherrschen aber immer noch die alte Tradition der Kantha-Stickerei. Mithilfe von Design-Inputs und ihrem Marketing-Talent beschäftigt Shabnam inzwischen 2400 Frauen für die Verfertigung von Heimtextilien, die sogar exportiert werden. Jede von ihnen ist Aktionärin der Firma «Katna’s Kantha». Die allermeisten unterschrieben die entsprechenden Bank-Dokumente mit einem Daumen-Aufdruck.
Ramaswamy weiss, dass die meisten ihrer Schülerinnen das Weite suchen werden, wenn sie die zwölfte Klasse einmal hinter sich haben. In der Region sind Job-Angebote mit Englischkenntnissen immer noch eine Ausnahme. Aber Schul- und namentlich Sprachkenntnisse sind wichtige Ankerpunkte eines neuen Selbstverständnisses, gerade bei den Mädchen.
Bedrückende Zustände im Krankenhaus
Das Positive verbindet sich dabei mit dem Fluchtimpuls aus einer düsteren Realität. Man muss nur das nächstgelegene Kreisspital aufsuchen, um zu sehen, dass die Milliarden von Staatsgeldern für Autobahnen und Hochstrassen eingesetzt werden und nicht für Spitalbetten und Toiletten auf der dunklen Seite des Mondes.
Shabnam – sie lebt allein und ist inzwischen über siebzig – begab sich ins Krankenhaus, als sie kürzlich einmal mehr von Panikattacken ergriffen wurde. Statt ihre Beziehungen spielen zu lassen, ging sie anonym und ohne Begleitung hin. Sie wollte sich ein Bild davon machen, was ein Spitalaufenthalt für arme Frauen bedeutet. Jedes Bett, fand sie, war mindestens doppelt besetzt. Viele Patientinnen lagen auf dem Steinboden, und sie selbst fand nur einen Platz nahe einer faul riechenden Toilette. Die Bettlaken hätte sie selber mitbringen müssen, selbstverständlich auch das Essen. Angehörige müssen zudem die Medikamente in einer der vielen privaten Apotheken ausserhalb des Krankenhauses beschaffen, weil der Generator fehlt, der die Kühlung auch während der Stromausfälle sicherstellen würde.
Das Versprechen von Erlösung in Kolkata
Die Schulabgänger der Jagriti-Schule – «Jagriti» heisst «Erwachen» – kennen solche Zustände. Sie finden daher nichts dabei, Arbeitsmigrantinnen zu werden, noch bevor sie je eine bezahlte Arbeit ausgeübt haben. Die meisten werden ohne Arbeitsvertrag in der Tasche in Kolkata landen, und das Fernziel – Mumbai oder Bangalore – liegt noch weiter in der Ferne. Dennoch träumen sie und haben Ambitionen. Denn haben sie nicht bereits etwas erreicht, wovon ihre Eltern nie geträumt hätten? Die dreizehnjährige Asma ergriff die Gelegenheit unserer Anwesenheit beim Schopf und erkundigte sich bei meinen Mitreisenden detailliert, was sie tun müsse, um Schriftstellerin zu werden.
Einige Tage später hatten wir Gelegenheit zu sehen, wie Kolkata mit den Heerscharen von Landflüchtigen – und ihren Träumen von Arbeit und Wohlstand – umgeht, obwohl es bereits aus allen Nähten platzt. Wir waren rechtzeitig zur «Durga Puja» angereist, dem neuntägigen Fest ihrer Schutzgöttin. Und wir erhielten Antworten auf die beiden Fragen, die uns umtrieben: Wie gehen die Millionen von Menschen mit dem schieren physischen Druck um, den sie in einer überstrapazierten Infrastruktur erzeugen und spüren? Und wie kommen sie psychisch und im Umgang untereinander damit zurecht?
Die Antworten waren so simpel wie überwältigend. Was das physische «Crowd Management» angeht, erweiterte Kolkata den zwölfstündigen Tag zu einem 24-stündigen. Und das Versprechen von Erlösung aus Enge und Hoffnungslosigkeit fand es im Kult der Göttin. Er schuf nicht nur abstraktes (Gott-)Vertrauen, sondern gab diesem eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt, in Form einer Explosion von künstlerischer und handwerklicher Kreativität. Beides verdient einen eigenen Essay.