Die Frage hat die Tendenz, philosophisch, und damit meine ich: stachlig zu werden. Plötzlich zeigt die Existenz Risse, ja, vielleicht öffnen sich für den einen oder die andere Abgründe. Freizeit ist die Zeit, in der das eigene Leben ohne Netz der Gewohnheiten oder Vorschriften abläuft. Das verlangt nach innerer Balance, und genau sie ist gefährdet.
Freizeit wäre ja eigentlich die Zeit, über die man frei verfügt, sogenannt „verhaltensbeliebige“ Zeit. Aber so beliebig ist sie eben gar nicht. Mein Verhalten wird unterschwellig diktiert von den Normen der heutigen Arbeitswelt, ja, Freizeit ist oft Arbeit, stressige Arbeit. Freizeit ist eine Milliardenindustrie, die überhaupt erst die Bedürfnisse produziert, die sie befriedigt. Denn schon längst sind die Bedürfnisse zur Ware geworden. Früher suchte man zu einem Bedürfnis ein entsprechendes Produkt, um es zu befriedigen; heute schafft man zu einem Produkt ein entsprechendes Bedürfnis. Die meisten Gadgets, die den Markt überschwemmen, funktionieren nach diesem Prinzip.
Der technische Fortschritt
Betrand Russell hat einen kleinen Essay geschrieben: „Lob des Müssiggangs“. Darin unterscheidet er zwei Arten von Arbeit. Die erste besteht darin, ein Stück Materie von einem Ort zum andern zu verschieben; die zweite darin, andere das tun zu lassen. Diese Zweiteilung ist uralt. Sie bedeutet eine Klassengesellschaft. Wir kennen sie aus der Antike: Es gibt Bürger und Sklaven. Mühsame Arbeit wird delegiert. Der Sklave ist – so sagt Aristoteles – bloss ein Werkzeug.
Nun besteht der technische Fortschritt – zumindest nach einer gängigen Auffassung – darin, dass wir immer mehr Tätigkeiten – physische und intellektuelle – an Maschinen delegieren. Sie sind die eigentlichen „Sklaven“ von heute. Roboter – der Begriff wurde vom tschechischen Schriftsteller Karel Čapek 1921 in einem Theaterstück eingeführt – bedeutet künstlicher Arbeiter oder Sklave. Nebenbei bemerkt, endet das Stück nicht gut. Die Roboter übernehmen die Herrschaft und der Mensch stirbt aus.
So dramatisch muss man die Situation nicht sehen. Aber dieses Delegieren von Arbeit an andere Menschen oder an Maschinen kann uns vielleicht eine neue Perspektive auf die Freizeit eröffnen. Ich möchte hier kurz eine saisonal typische Freizeitbeschäftigung anleuchten: Gärtnern.
Gartenglück
Čapek schrieb nicht nur ein Stück über Roboter, sondern auch ein lesenswertes kleines Buch über Gartenarbeit: „Das Jahr des Gärtners“ (1929). In ihm begleitet er „den“ Gärtner ein Jahr lang bei seiner Arbeit. Und dabei wird ein Zusammenhang von Roboter und Gärtner offensichtlich, der als höchst aufschlussreich für ein typisch defizitäres Verhältnis zur heutigen Arbeit erscheint. Tatsächlich wird sie immer „roboterhafter“; verlangt bloss nach der Bedienung von Tastaturen und Interfaces. Und dadurch weckt sie – kompensatorisch – ein Bedürfnis nach pfleglichem Hand-Anlegen, das sich beispielhaft gerade im Garten-Anlegen ausdrückt. Es liesse sich sogar sagen, dass Gärtnern so etwas wie die Austreibung unseres „inneren Roboters“ bedeutet – oder anders gesagt: die Wiederbeseelung der Arbeit.
Ich sehe hier ein Paradox: Je mehr wir uns von physischer Arbeit entlasten, desto mehr regt sich das Bedürfnis nach physischer Arbeit. Selbst die modernste Telekommunikation kann das Bedürfnis des Menschen nach physischer Nähe nicht ersetzen. Im Kontext der „smarten“ Technologien findet keineswegs nur der „Rückzug“ des Körpers aus der industriellen Arbeit statt, sondern auch ein gegenläufiger Prozess der Rückkehr. Wenn man zu Beginn des Industriezeitalters eine Abwertung der körperlichen Fertigkeiten des Arbeiters („de-skilling“) als Basis für die Mechanisierung der Fabriken forderte, werden im heutigen technischen Kontext sozusagen in ironischer Umkehr Postulate einer Wiederaufwertung ebendieser Fertigkeiten („re-skilling“) laut. Und so verhält es sich generell. Die neuen Kommunikations-, Produktions-, Verkehrsmittel liquidieren die alten nicht, sie verleihen ihnen vielmehr eine neue, ich möchte behaupten: potenziell emanzipatorische Bedeutung.
Die innere Bedrohung: Langeweile
Ich meine: Emanzipation von der Langeweile. Eine gewaltige Industrie drängt uns alles nur Erdenkliche auf, um unsere Freizeit möglichst von Langeweile zu säubern. Spass und Unterhaltung nennen wir das gewöhnlich. Im Grunde ist das nicht spassig. Denn die Maschinerie des Langeweilevertreibens kann ja nur in Gang gehalten werden, wenn Langeweile vorhanden ist. Sie muss also ständig erzeugt werden, und sie wird erzeugt durch ebenjene Medien, die sie vertreiben. Fernsehen exemplifiziert das Paradox musterartig: Es vertreibt und erzeugt Langeweile in immerwährenden Zyklen: Tretmühlen. Das liegt nicht am Inhalt der Sendungen. Es liegt daran, dass der durchschnittliche Konsument dieses Medium so benützt. In Umfragen fällt immer wieder die Ambivalenz der Antworten auf. Fernsehen macht müde, aber gerade wenn man müde ist, sieht man fern. Fernsehen macht so leer, dass man nur noch fernsehen kann.
Drückeberger und Müssiggänger
Was tun, um aus diesen Tretmühlen auszubrechen? Ich möchte mich hier an einer einfachen – wahrscheinlich zu simplifizierenden – Antwort versuchen: Müssiggang lernen. Das ist nicht leicht. Dazu müssen wir vorab zwischen Drückeberger/Faulenzer und Müssiggänger unterscheiden. Der Drückeberger verwendet Arbeitszeit zu eigenen Zwecken. Er erledigt etwa private Geschäfte über den Firmencomputer; er schaut sich heimlich YouTube-Videos an oder chattet mit der Freundin. Der französische Philosoph Michel de Certau hat dafür einen treffenden Ausdruck geprägt: „la perruque“ – man setzt sich eine arbeitsame Perücke auf. Man stiehlt Zeit. Man handelt also eigentlich innerhalb des Wertsystems der bestehenden Arbeitswelt, akzeptiert es stillschweigend; profitiert davon.
Der Müssiggänger dagegen weist dieses Wertesystem zurück. Er stiehlt nicht Zeit, er definiert sie für sich selber um. Er arbeitet unter Umständen durchaus hart, härter vielleicht als der normale Arbeitnehmer, aber er tut dies nicht, um dafür in irgendeiner Weise materiell entlohnt zu werden, sondern um zu demonstrieren, dass Arbeit sich auch anders auszahlt.
Freizeit ist eine eminent gestalterische Aufgabe
Was mich zur Schlussthese bringt: Wir haben ein unterentwickeltes Bewusstsein für die Freizeit. Und das heisst: ein unterentwickeltes Bewusstsein für die Langeweile. Hören wir kurz auf Friedrich Nietzsche (Fröhliche Wissenschaft): „Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ‚Windstille’ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist.“
Freizeit erobern wir nur zurück, wenn wir neben das Prinzip Arbeit ein Prinzip Musse stellen. Musse im Sinne von: Ich habe Zeit und Gelegenheit, also die Wahl, aber ich muss nicht. Genau das macht den Müssiggänger aus. Er weist nicht die Arbeit zurück, sondern die Normen der Arbeitswelt. Er definiert damit Freizeit grundlegend um. Nun nicht als Auszeit von der Arbeit, sondern im Sinn von freier Zeit zur Ausübung einer erfüllenden – meist einer kreativen und spielerischen – Beschäftigung. Das kann auch eine scheinbar sinnlose Aktivität sein. Zum Beispiel, indem man auf einer Brücke während eines halben Tages hin und her geht. Allez en avant et le sens vous viendra.
Freizeit, so verstanden, ist das gesellschaftliche Versuchsfeld, mussevolle Arbeitsformen zu entdecken, die sich durchaus als sinnvoll und nützlich erweisen können, ohne „laborisiert“, das heisst in die Arbeitswelt integriert zu werden. Musse sprengt das starre Gehäuse des Arbeitssystems. Wir brauchen heute Müssiggänger als Sprengmeister dieses Gehäuses, als waghalsige Exploratoren der Terra incognita Freizeit. Im Klartext: Sie sind ein Bildungsziel.