Junge Leute begegnen sich in einem Badeort. Sie lernen einander und sich selber kennen. So beginnen Kinostücke des Genres «Sommerfilme». Mit «Roter Himmel» gelingt dem Deutschen Christian Petzold eine komplexe, empathische, furios inszenierte Variante.
Auf einer Waldstrasse bleibt ein Personenwagen liegen. Die Insassen: zwei Freunde aus Berlin, unterwegs zu einem Arbeitsurlaub beim Badeort Ahrenshoop an der Ostsee. Dort möchte der lockere Felix eine Bewerbungsmappe für den Eintritt in eine Kunstakademie erstellen. Und der verkopfte Leon das Manuskript zu seinem zweiten Roman abschliessen. Er ist nervös, weil sein Verleger eine Stippvisite angekündigt hat.
Die zwei machen sich mit ihren Koffern zu Fuss auf den Weg zum Ferienhaus, das Felix’ Mutter gehört. Nach einer Weile geht der sportive Felix allein weiter, um eine Abkürzung auszuchecken. Der träge Leon bleibt vorerst im Gehölz zurück. Und schon umfängt einen die kribbelnde Erwartungsstimmung im atmosphärisch dichten neuen Film «Roter Himmel» von Christian Petzold.
Als Felix zurück ist, wirkt Leon unruhig. Und kaum ist man beim Haus in einer Waldlichtung angelangt, wartet die nächste Überraschung. Die Mama von Felix hat noch jemanden einquartiert, ohne das mitzuteilen. Die Jungs müssen sich das kleine Zimmer teilen, das grössere ist belegt. Und aus der herbeigesehnten Nachtruhe wird nichts, weil durch die Wand anschwellendes Gestöhne dringt. Vor allem Leon ist voll bedient.
Anderntags beobachtet er vom Garten aus die Mitbewohnerin im roten Kleid, die eine selbstbewusste Anmut ausstrahlt. Sie heisst Nadja, jobbt als Eisverkäuferin im Dorf und verlustiert sich am Feierabend amourös mit dem feschen Rettungsschwimmer Devid. Leons Interesse an Nadja ist zwar geweckt, aber er wirkt irritiert: Mangelt es ihm an Erfahrung im Umgang mit so viel Frau?
Ein Sommerfilm der dritten Art
Traditionelle «Sommerfilme» haben oft eine vergleichbare Ausgangslage. Es geht dort, so Petzold, um junge Menschen, «die losfahren und irgendwo den Sommer gemeinsam verbringen. Im amerikanischen Kino sind das oft Horrorfilme: eine unbekannte Gegend, eine Abkürzung, ein Haus im Wald, und dann beginnt der Horror. Im französischen Kino sind die ‹Sommerfilme› mit jungen Menschen oft so etwas wie ‹Lehrjahre des Gefühls›».
«Roter Himmel» ist ein Sommerfilm, aber quasi einer der dritten Art: Er kokettiert zwar mit der französischen Variante, zitiert auch die härtere US-Spielform, ist indessen weit weniger dem oberflächlichen, punktuellen Effekt verpflichtet als der Psychologie seiner Charaktere angesichts einer unberechenbaren naturhaften Bedrohungslage.
Feuer und Wasser
In «Roter Himmel» von Christian Petzold, der für Regie und Drehbuch zeichnet, geht es um die Gemütslage sowie das Tun und Lassen eines heterogenen Quartetts von jungen Leuten. Man schaut sofort gerne zu, wenn Felix sein originelles Fotoprojekt voranbringt und sogar noch Musse für Badespass hat. Den würde sich Leon nie gönnen. Er trödelt frustriert in Kleidern am Strand herum und hofft auf literarische Musenküsse. Vergeblich. Die andern kochen gemeinsam, reparieren ein Hausdach, amüsieren sich beim Softball-Spiel. Und als sich Devid bald den Beau Felix ins Bett holt, akzeptiert das die gelassene Nadja nonchalant.
Als dann gemeldet wird, dass nur einige Kilometer entfernt Waldbrände wüten, wird das am idyllischen Schauplatz noch verdrängt. Die rote Färbung des Himmels am Horizont erscheint bloss dekorativ. Doch zunehmend donnern Löschflugzeuge über den Ort, und bald wirbeln feine Ascheteilchen durch die Luft. Jetzt dämmert es allen, dass da Bedrohliches im Anzug ist. Das Element Feuer spielt in «Roter Himmel» eine zentrale Rolle, so wie Wasser im vorausgegangenen Petzold-Werk «Undine» (2020), einer im zeitnahen Berlin verorteten Neuinterpretation des Mythos um eine geheimnisumflorte Seejungfrau.
Frühe post-pandemische Gesellschaftsstudie
Christian Petzold (62) zählt zu den prägenden zeitgenössischen deutschen Filmschaffenden. In der Phase des Corona-Lockdowns 2020 schrieb er an einem neuen Drehbuch, erkrankte an Covid-19, litt an Fieberträumen. Daraufhin erklärte er in einem Interview, dass er sich aufgrund dieser einschneidenden Erfahrung von der Idee getrennt habe, einen dystopischen Film zu inszenieren: «Ich sagte mir, wenn ich wieder gesund (…) bin, möchte ich am Thema Liebe und mit jungen Menschen arbeiten und nicht über eine Welt, die sich in einem Ausnahmezustand befindet.»
Diese Absicht hat Petzold mit «Roter Himmel» bravourös umgesetzt und so etwas wie eine frühe post-pandemische, eindringlich-intime Gesellschaftsstudie realisiert. Das Werk feierte an der Berlinale 2023 Premiere, wo es verdientermassen mit dem Grossen Preis der Jury bedacht wurde.
Die Leiden des jungen Leon
Die Story fokussiert auf die Befindlichkeits-Turbulenzen des überambitionierten Autors Leon, der überzeugt ist, mit seinem blasiert beobachtenden, elitär kritischen Aussenblick auf das Geschehen um ihn herum für seinen Anspruch, ein bedeutender Literat zu werden, bestens gerüstet zu sein. Bis ihm zu schwanen beginnt, dass ihn seine Verweigerung des anteilnehmenden Zusammenlebens mit anderen ins Abseits, sogar in die Einsamkeit manövriert. Oder mit Petzolds Worten: «Er schliesst sich aus der Welt aus, weil er glaubt, die Distanz gehöre zum Schriftstellersein. Er hat noch nicht begriffen, dass das keine Erzählposition ist.»
Hellhörig wird Leon, als er von Nadja gebeten wird, sie seinen Text lesen zu lassen. Obwohl er ihre Fachkompetenz geringschätzt, lässt er das zu. Ihr folgender Kommentar trifft Leon, der sich schon als Gipfelstürmer aller Bestsellerlisten wähnt, mit voller Wucht. Und es kommt noch dicker: Als der Verleger Helmut eintrifft, liest dieser sich sofort in Leons Manuskript ein, das den lapidaren Arbeitstitel «Club Sandwich» trägt. Dann erteilt er Leon eine Lektion, die sich gewaschen hat. Er nötigt ihn, ihm beim mehr süffisant-spöttischen als väterlich-aufbauenden Vortragen einiger Passagen zuzuhören. Für Leon wird das zur Tortur, weil ihm klar wird, dass sein Geschreibsel höheren Ansprüchen nicht genügt.
Diese Schlüsselszene zeigt Christian Petzolds Flair für fadengerades, von Selbstironie durchwirktes Erzählen. Er erklärt: «Der zweite Roman ist etwas, wo sich vieles entscheidet: Hast du eine Identität? Hast du eine Leidenschaft? Bist du Schriftsteller oder war das erste Buch eine Eintagsfliege? Das ist beim Film wahrscheinlich nicht anders. Mein zweiter Film war im Grunde genommen Leons Roman ähnlich (…). Die Geschichte war voller Zitate aus dem Film Noir, das war der Film eines jungen Mannes, der sagen wollte: ‹Hey, ich bin Cineast, ich habe echt Ahnung› (…) Der Film hiess ‹Cuba Libre› und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Titel von Leons gescheitertem Roman, ‹Club Sandwich›, ziemlich ähnlich klingt.»
Ensemble-Spirit
Christian Petzold arbeitet gerne mit ihm vertrauten Leuten zusammen, vor allem auch besetzungsmässig. Den Verleger Helmut verkörpert der jüngste Sohn des früheren deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt, Matthias Brandt (61). Der gefragte Buchautor, Bühnen- und Kinodarsteller stand für Petzold bereits im Film «Transit» und in der TV-Reihe «Polizeiruf 110» vor der Kamera. In «Roter Himmel» überzeugt als sein Gegenpart Leon der facettenreiche Österreicher Thomas Schubert (29), ein Petzold-Debütant. Und die einzige tragende Frauenrolle der Nadja übernimmt Paula Beer (28), die schon in «Undine» und «Transit» zu sehen war und in «Roter Himmel hinreissend forsch und authentisch aufspielt. So geht Ensemble-Spirit.
Das Zusammenspiel dieser Truppe ist exemplarisch zu erleben beim geselligen Umtrunk im Garten, wo sich die von den Herren unterschätzte Nadja überraschend als Literaturkennerin erweist und mit Helmut im Duett das Gedicht «Der Asra» von Heinrich Heine rezitiert. Der Verleger ist so hin und weg wie Leon schockiert. Mit dem Resultat, dass man den gebeutelten «Kummerbuben» nun ins Herz schliesst.
Mitwirkung der Schauspieler am Drehbuch
Interessant von einem Regisseur zu vernehmen, dass der Storyverlauf nicht allein das Resultat seines vorgegebenen Handlungskonzepts, sondern in Kombination mit frühen Teamtreffen an den noch «undekorierten» Drehorten entstanden ist. Petzold: «Dinge, die mehr im Hintergrund passieren, sind im Drehbuch nicht ausgeschrieben, das haben die Schauspieler selber gemacht. Die haben sich in ihren Figuren mit einer Leichtigkeit und einem Spass miteinander bewegt, wie ich das so vorher noch nicht erlebt hatte.» Vielleicht ist es diese Leichtigkeit, die einem dazu verführt, komplexe emotionale Perspektivenwechsel anzunehmen und mitzugehen.
Petzold liebt es, Wechselbäder der Sympathien in die Choreografie einzubauen. In «Roter Himmel» sind das auch Versatzstücke divergenter Filmgenres, die er raffiniert verwebt, sogar kollidieren lässt – vom heiter-melancholisch Komödiantischen bis ins Abgründige hinein, mit verblüffenden Dialog- und Szenenpointen, bar flatterhafter Seichtigkeit.
Petzolds Inspirationsquellen
Christian Petzold ist ein Künstler, der sich in der internationalen Filmgeschichte bestens auskennt und in ihr für sein stilbildendes Narrativ recherchiert. Eine wesentliche Inspirationsquelle ist für ihn das französische Kino der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vorab das Schaffen Eric Rohmers oder Claude Chabrols, das ihn seit seiner Jugend prägt.
Für das Projekt «Roter Himmel» hat sich Petzold zudem intensiv mit der zeitlos magischen Kraft von Ozu Yasujirō (1903–1963) beschäftigt, der den gesellschaftlichen Wandel in seiner Heimat Japan aufarbeitete und weit über deren Grenzen hinaus universelle Themen wie Familie, Ehe und Generationenkonflikte ins Zentrum seiner Plots rückte. In einer Manier, die sowohl europäische wie US-amerikanische Autorenfilmerinnen und -filmer wie Rainer Werner Fassbinder, Doris Dörrie, Wim Wenders, Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch beeinflusste.
Die bestechende Bildgestaltung in «Roter Himmel» ist Hans Fromm zu verdanken, der an bislang allen Petzold-Werken beteiligt war, und die Montage verantwortet Bettina Böhler, die seit 1996 zum Team gehört. Auf der Tonspur setzt Petzold in «Roter Himmel» vornehmlich auf natürliche Begleitgeräusche oder vereinzelte tierische Laute, bis hin zu Insektensummen, um die Handlungsdynamik zu akzentuieren, ohne sie zu überfrachten. Musik fügt er nur sehr dezent bei: den melancholischen Love-Song «In My Mind» der österreichischen Band Wallners, das Instrumentalstück «Be Late» des deutschen Electro-Pop-Duos Tarwater und Klänge aus «Andata» des japanischen Jazz- und Pop-Maestros Sakamoto Ryūichi (1952– 2023).
Hoffnungsfunken im Feuersturm
Im kathartischen, doch von demütiger Zärtlichkeit umflorten Schlussakt geht es darum, was angesichts der Erhitzung der Atmosphäre (im doppelten Sinne des Wortes) aus dem jungen Vierergrüppchen mit Dame und reiferem Gast wird: Was geschieht mit dem so zupackenden Männerpaar Felix und Devid nun, wo die tödliche Feuerwalze heranrollt? Wie ergeht es Helmut, der sich als gesundheitlich fragil entpuppt? Welchen Ausweg wählt die so souveräne Nadja jetzt, wo schnelles Handeln gefordert ist? Und wie verhält sich Leon, der sich der eigenen verstockten Beschränktheit bewusst geworden ist und anfängt, sich zu häuten, indem er endlich mitgestaltend dabei sein möchte im Hier und Jetzt, seinem Lebens- und Liebesssinn zugewandt?
Petzold versteht es dank seinem Regiegespür, erzählerisch den Blick auf die Brandherde zu lenken, mit denen seine Charaktere konfrontiert sind. Indem er sich ihren Schwachstellen und Verletzlichkeiten mit Empathie annähert, lässt er Funken der Hoffnung aufglimmen.
«Roter Himmel» ist ein filmisches Bijou. Zugeschnitten auf ein lustvolles, offenes und die Generationen übergreifendes Publikum, das sich auf eine ungewohnte Mélange aus Arthouse-Filmsprache mit einigen Prisen Mainstream-Dynamik einlassen will. Also auf anspruchsvolle Unterhaltung mit Esprit.
Deutschschweizer Kinostart «Roter Himmel»: 25. Mai 2023