Professor Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland und Kritiker der israelischen Besatzungspolitik, ist gestorben. Bei der Beerdigung auf Berlins Jüdischem Friedhof in Weissensee fehlte ein Trauergast – ein Vertreter des Zentralrates. Beerdigungen können die Basis für Versöhnung sein – oder wenigstens für eine Art politischen Waffenstillstand – so denn ein Zerwürfnis aktuellen oder auch prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten etwa über Konflikte zwischen zwei Völkern entspringt. Wer Grösse zeigen will, lässt sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen.
Rolf Verleger hätte eine solche Geste verdient gehabt. Sie ist ausgeblieben. Die Fronten zwischen ihm und dem Zentralrat waren zu verhärtet. Wie im Nahen Osten, wo sich Israelis und Palästinenser seit Jahrzehnten in einem Konflikt verknäuelt haben. Oder realistischer: wo Israel die Besetzung palästinensischen Landes nicht beenden will.
Rolf Verleger war – neben Rupert Neudeck, Professor Udo Steinbach, Professor Norman Paech, Nirit Sommerfeld und manch anderen, Gründungsmitglied des 2017 in Deutschland ins Leben gerufenen Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e. V., abgekürzt BIP.
In der Satzung heisst es, die Palästinenser hätten die Existenz des Staates Israels in den Grenzen von 1949 seit langem akzeptiert und durch ihre Vertretung, die PLO, wiederholt anerkannt. «Sie werden jedoch niemals die Besatzung ihrer Restheimat – der Westbank, Ost-Jerusalems und des Gaza- Streifens – akzeptieren.» Denn diese Besatzung entziehe durch die «ungebrochene Kolonisierung und Enteignung von Land, die regelmässige Zerstörung von Häusern, Gärten und Plantagen und die Gewalt der Siedler den Palästinensern die Existenzgrundlage».
Rolf Verleger hat über sich selber in seinem Buch «Hundert Jahre Heimatland?» (siehe Journal21 vom 10.Oktober 2017) geschrieben: «Mein Vater war 1942 in Auschwitz, seine Frau und seine drei Kinder wurden dort umgebracht. Er hat überlebt. Meine Mutter wurde 1942 mit ihren Eltern von Berlin nach Estland deportiert. Sie allein hat überlebt. (...) 1948 heirateten meine Eltern. Mein Vater wollte wieder Kinder haben, jüdische Kinder.» Bewusst, schreibt Rolf Verleger weiter, hätten sich seine Eltern für Deutschland entschieden, wo sein Vater eigentlich gern gewohnt habe. Rolf Verleger wurde Psychologe, war bis 2017 Professor an der Universität Lübeck und von 2006 bis 2009 Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland.
Zum Konflikt zwischen Rolf Verleger und dem Zentralrat kam es nach dem Tod Heinz Galinskis. Galinski war 1988 zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt worden. Damit hatte eine Epoche begonnen, in welcher der Zentralrat «eine Rolle als Kontrollinstanz für die Einhaltung der Menschenrechte» übernommen habe, schreibt Verleger in seinem Buch. Diese Rolle habe der Zentralrat später leider aufgegeben, weil er sich «vorbehaltlos mit der Politik des Staates Israel» identifiziere und damit als moralische Instanz ausfalle. Denn Israels Politik verletze «in vielfältiger Weise die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung».
Rolf Verleger musste noch miterleben, wie die Unterdrückung der Palästinenser immer neue Formen annahm. Diana Dolev, eine in Berlin lebende Israelin, sagt zu Journal 21, die Gewalt der Siedler gegenüber palästinensischen Bauern nehme deutlich zu. Die Siedler störten die Bauern bei der für sie lebenswichtigen Olivenernte, besetzten ihr Land und würden dabei häufig von der israelischen Armee unterstützt.
Arik Asherman von der 1988 gegründeten Organisation «Rabbis for Human Rights» sagt (Quelle www.Qantara.de), das Judentum habe einen «wundervollen Schatz an überlieferter Gesetzgebung – die ‹Halacha› – und eine Tradition, die uns lehrt, wie wir unsere Mitmenschen behandeln sollten. Heute würden wir diese Regeln Menschenrechte nennen.» Nun aber gebe es einige unter uns, die glaubten, dass diese Regeln nur auf Juden anzuwenden seien. In der Genesis, Vers 27 heisse es aber, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen «habe. «Wenn wir das ernst nehmen», sagt Arik Asherman, «heisst das, dass wir Gottes Antlitz in allen Menschen erkennen, dass Menschenrechte für alle gelten, für Juden wie für Nichtjuden. Das ist das Fundament unserer Organisation.»
Rolf Verleger hat diese Grundsätze stets verfochten. So sagte etwa Shir Hever von der Organisation «Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e. V.» bei der Beerdigung Rolf Verlegers in Berlin, der Verstorbene sei Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Lübeck und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein gewesen. Und dann sagte Shir Hever: «Während der israelischen Invasion in den Libanon im Jahr 2006, die fast 2’000 Menschen (90 Prozent davon Libanesen) das Leben kostete, blieb Rolf nicht still. Er kritisierte die israelische Aggression; deshalb wurde sein Mandat als Vertreter seines Landesverbands im Zentralrat der Juden widerrufen.»
Rolf Verlegers Kritik ist noch heute berechtigt. Diana Dolev sagt, zahlreiche vom israelischen Militär errichtete Kontrollposten an den Strassen des Westjordanlandes engten die Bewegungsfreiheit der Palästinenser weiter ein. Auch würden Baugenehmigungen für Palästinenser meistens nicht gegeben. Diana Dolev berichtet von einem Fall, in dem einem Palästinenser die Baugenehmigung auf eigenem Land von den israelischen Verwaltungsbehörden verweigert worden sei. Der Palästinenser habe dann trotzdem gebaut – und habe dann nach Intervention der israelischen Behörden sein selbst gebautes Haus eigenhändig wieder abgerissen; sonst, sagt Diana Dolev, wären israelische Bulldozer gekommen und der palästinensische Bauherr hätte eine hohe Strafe und die Abrisskosten bezahlen müssen.
Solche Berichte gibt es viele aus Ostjerusalem und aus den besetzten Gebieten. Wohl deshalb kündigte die israelische Regierung kürzlich an, einige israelische Nichtregierungs-Organisationen verbieten zu wollen – wegen vermeintlichen Verbindungen zu terroristischen Gruppen. Daraufhin protestierte eine Reihe von auch international bekannten Persönlichkeiten gegen diesen Plan, u. a. Peter Gabriel, Mark Ruffalo, Richard Gere, Susan Sarandon, Tilda Swinton, Yanis Varoufakis, Costa Gavras, Rashid Khalidi und Naomi Klein. Sie begründeten ihren Protest mit den Worten, die Arbeit dieser Organisationen diene der Ertüchtigung der Palästinenser und habe sich zum Ziel gesetzt, israelische Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Für die von Israel behauptete Verbindung dieser Organisationen zu terroristischen Gruppen gebe es keinerlei Beweise. Die von Israel attackierten Gruppen sind «Addameer», «Al-Haq», «Defense for Children International – Palestine» sowie das «Bisan Centre for Research and Development», zudem die «Union of Palestinian Women’s Committees» sowie die «Union of Agricultural Work Committees».
Alle diese Gruppen haben auch im Sinne von Rolf Verleger gearbeitet.