Roger Rightwing beschäftigte sich mit sich selbst. Das hiess: Er las den Eintrag über sich auf Wikipedia.
Ödeli hatte keinen Eintrag auf Wikipedia. Ödeli war niemand und deshalb schrieb auch niemand Blödsinn über ihn hinein. Roger Rightwing hingegen korrigierte die Angaben zu seiner Person regelmässig. Zuerst machte er die Boshaftigkeiten rückgängig. Dann schrieb er alle seine eigenen Einträge um, die ihm nicht mehr passend schienen. Roger Rightwing ging mit der Zeit.
Rogers Kopf war jetzt abgetaucht, Ödeli sah ihn nicht mehr, doch nach etwa fünf Minuten lugte der Kopf neben dem Bildschirm hervor.
Ödeli hörte einen Singsang: “Ich sehe dich, du siehst mich nicht! Ich sehe dich, du siehst mich nicht!”
Ödeli duckte sich bei jedem Wort.
“Komm er her, Bänz. Er soll mir helfen.”
“Oh, das würde ich niemals wagen. Mit meiner schlechten Schreibe.”
“Du sollst mir nur zusehen. Du kannst dabei lernen, wie man einen Text redigiert. Siehst du, in meinem Wikipedia-Eintrag steht: ‚Aufgewachsen in Baar…‘, ich mache daraus: ‚Mit zwei Jahren erster Auslandaufenthalt in Paris’. Ist doch wurscht, wo ich aufgewachsen bin.
Ödeli schwitzte. Seine Stimme verriet Unsicherheit.
“Darf man das?”
“Freilich! Es ist aufwändig nachzuweisen, dass ich die Einträge selbst gemacht habe. Was mich am meisten stört, ist dieses ‚rechtsgerichtete politische Position’, auch ‚rechtsliberal’ gefällt mir nicht. Jetzt schau mal, ich schreibe da hinein, hm, ich schreibe: ‚ultranationalistisch’.”
Ödeli schwitzte. Sein Atem war warm. War das ein Test?
“Ultranationalistisch?”
“Ja, das ist lustig. Ich könnte auch hineinschreiben, dass ich Bon Jovi, Rosa Luxemburg oder Doktor Goebbels verehre. Würde dir das nicht gefallen, Bänz? Du kannst dann am Abend wie immer die neue Version meines Eintrags ausdrucken und in die zweitoberste Schublade deines Schreibtischs ablegen.”
Ödeli schwitze. Sein warmer Atem stockte. Wie konnte Rightwing das wissen?
“Ja, Bänz, das tust du nämlich. Du vergleichst alle meine Wikipedia-Fassungen. Du denkst: Vielleicht nützt es mir einmal. Oder es rettet meinen Arsch. Du musst nur beweisen, dass ich die Änderungen gemacht habe. Aber das ist nicht so einfach.”
Ödeli schwitzte. Er sah aus, als sei er samt Kleidern in ein Dampfbad gestiegen.
Es war ein Test. Vielleicht der letzte Test.
Jetzt war es da, das Roger-Rightwing-Augenfunkeln. Es war herablassend und schadenfreudig. Wenn Rightwing so dreinsah, war Stufe 7 auf der Redaktionsunheilskala.
Ödeli tropfte.
“Siehst du, Bänz, dass hinter dem Wikipedia-Fenster ein weiteres herausschaut? Nur drei Millimeter. Nimm die Maus und klick das Wikipedia-Fenster weg, aber überschwemm mein Pult dabei nicht.”
Ödelis zitternde Finger griffen nach der Maus, der Cursor lag über dem x, Ödeli klickte. Er dachte an das Geräusch der Guillotine, wenn sie in den obersten Halswirbel kracht.
“Was siehst du jetzt?”
Ödelis Mund stiess feuchte Wölklein aus.
“Ein Entlassungsschreiben.”
Roger Rightwing schüttelte den Kopf.
“Mein Entlassungsschreiben?”
“Genau. Aber schau mal, was ich jetzt tue? Ich klicke es weg. Du bist noch einmal davongekommen, Bänz. Das passiert, wenn man mich ausspioniert. Merk er sich das.”
Rightwing stand auf und entfernte sich mit einem tiefen Grunzen. Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten trällerte er: “Ich sehe dich, du siehst mich nicht. Ich sehe dich, so siehst mich nicht.”
Ödeli sank in sich zusammen. Er seufzte: “Allmächtiger!” Es war nicht klar, wen er damit meinte.