At-Tanf ist ein Wohnort und ein Flüchtlingslager tief in der Wüste nahe beim Knotenpunkt der syrischen, jordanischen und irakischen Grenzen. Die Amerikaner haben dort zudem ein Lager eingerichtet, in dem sie Widerstandskräfte gegen Asad ausbilden.
„Dekonfliktierung“
Es gibt eine Vereinbarung mit den Russen, nach der eine „Dekonfliktierungs“-Zone von 50 Kilometern Radius rund um dieses Lager herum besteht. „Dekonfliktierung“ bedeutet in Syrien und im Irak, dass die russische und die amerikanische Luftwaffe einander benachrichtigen, wenn sie in einer bestimmten, durch die Abmachungen umschriebenen, Zone Luftangriffe durchführen wollen.
Der Zweck dieser Abmachungen ist, zu vermeiden, dass die Luftwaffen der beiden Grossmächte (im Falle der Amerikaner betrifft dies auch Flugzeuge der Staaten der amerikanischen Koalition) gegeneinander in Kämpfe verwickelt werden. Doch „Dekonfliktierung“ bedeutet nicht, dass in der betreffenden Zone die eine oder die andere Seite die Herrschaft ausübt.
Eine amerikanische „Garnison“ auf syrischem Boden
Dennoch räumen die Amerikaner offiziell ein, dass sie eine „Garnison“ in at-Tanf, nahe der Grenze aber auf syrischem Staatsgebiet, aufrecht erhalten und sie zu verteidigen gedenken. Das Pentagon hat am 1. Juni erklärt, die Garnison sei verstärkt worden und nun besser als bisher für Abwehr gerüstet.
Die Amerikaner sagen auch, zwei Gruppen von Pro-Asad Kämpfern befänden sich in der Nähe von at-Tanf. Die eine sei in den „Dekonfliktierungs-Parameter“ eingedrungen, die andere „patroulliere an seinem Rand“. Die zweite Gruppe werde von der regulären Armee der Asad-Regierung beraten und verstärkt.
Drohungen
Die Amerikaner haben 90‘000 Flugblätter über diesen Truppen abgeworfen. Ihr Inhalt wurde veröffentlicht. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Texte. Der eine fordert die eingedrungenen Kämpfer auf, die Zone zu verlassen. Der andere warnt die Kämpfer am Rande der Zone davor, in sie einzudringen, und droht, im Falle des Eindringens würden sie sich Schlägen der amerikanischen Luftwaffe aussetzen.
Am 18.Mai hatte die amerikanische Luftwaffe Kämpfer einer Pro-Asad-Miliz bombardiert, die ihrer Garnison zu nahe gekommen waren. Dieser Angriff hatte mindestens fünf Todesopfer zur Folge. Manche Schätzungen liegen viel höher und sprechen von 50 Todesopfern. Nach den amerikanischen Angaben haben sich die bombardierten Einheiten zurückgezogen, doch befänden sie sich immer noch innerhalb des „Dekonfliktierungs“-Perimeters.
Damaskus will die „Badia“ befreien
Aus Damaskus verlautete zu alledem, die Asad-Regierung betrachte die „Befreiung“ der „Badia“ und der Provinz Deir az-Zor vom IS als ihre Priorität. Badia nennt man die Wüste östlich von Damaskus. Die Provinz von Deir az-Zor schliesst sich weiter unten am Euphrat an jene von Rakka an. Sie reicht bis an die irakische Grenze und endet beim Grenzübergang von Abu Kemal, der letzten grösseren Ortschaft im syrischen Euphrat-Tal, wo der Strom irakisches Territorium erreicht.
Zur Zeit beherrscht der IS noch beide Seiten der Grenze. Doch schiitische Milizen der „Volksmobilisation“ des Iraks stehen in einer Offensive, die das Tal hinauf bis an die syrische Grenze vorzudringen versucht, auf der irakischen Seite.
Wer beerbt den IS?
Auf der syrischen Seite gibt es einen Wettlauf um das zu erwartende Erbe des IS im Raum südlich von Rakka – eben in der Provinz Deir az-Zor. Damaskus versucht, dieses Erbe für sich zu erlangen, indem es, wie die Prioritätserklärung von Damaskus es offen ausspricht, durch die Badia östlich von Damaskus bis zum Euphrat vordringen möchte, um die Stadt Deir az-Zor und die gleichnamige Provinz zurückzugewinnen. Die Stadt ist zu zwei Dritteln in der Hand des IS. In einem kleineren Teil und dem angrenzenden Militärflughafen hält sich die syrische Regierungsarmee seit 2014. Sie wird dort aus der Luft versorgt.
Auch Ziel der Rebellenmilizen
Die Rebellentruppen, die von den amerikanischen Militärs in at-Tanf ausgebildet werden, versuchen ihrerseits, vor der syrischen Armee und deren Hilfskräften den Euphrat zu erreichen und damit das Gelände in Besitz zu nehmen, das sich zur Zeit noch in Händen des IS befindet. Sprecher dieser Anti-Regime-Miliz haben erklärt, sie seien auf ihrem Vorstoss ausserhalb der „Dekonfliktierungs“-Zone von russischen Flugzeugen bombardiert worden. Ob dies zutrifft, ist unklar. Es könnten möglicherweise auch syrische Kampfflugzeuge gewesen sein, die ebenfalls russischer Bauart sind. Doch der Hinweis auf Bombardierungen zeigt jedenfalls die entscheidende Schwäche der Rebellenmilizen auf. Sie verfügen über keine Luftwaffe, die Gegenseite jedoch über zwei, die syrische und die russische.
Die amerikanische Koalition ist bereit, den Rebellen im Kampf gegen den IS zu helfen, doch wenn es um Kampf gegen die Armee Asads oder deren Hilfstruppen geht, beschränkt sie sich darauf, den Perimeter der Zone um Tanf zu verteidigen. Dies erschwert es für die Rebellen, als erste den Euphrat zu erreichen und damit das Erbe des IS in der Region zu erlangen.
Wenn die Amerikaner sagen, die zweite in der Badia befindliche feindliche Gruppe „patrouilliere“ am Rand der „Dekonfliktierungs“-Zone, deutet dies darauf hin, dass die Pro-Asad-Kräfte versuchen, die von den Amerikanern ausgebildeten Milizen daran zu hindern, unbemerkt aus dieser Zone auszubrechen und den langen und für sie gefährlichen Weg durch die offene Wüste nach dem Euphrat-Tal anzutreten.
Iranische Sonderziele
Doch in at-Tanf geht es um mehr als darum, welche Seite die Nachfolge des IS in der Provinz Deir az-Zor antreten kann. Alles deutet darauf hin, dass die Iraner in der Region ihre eigenen Ziele verfolgen, ohne Zweifel mit Zustimmung von Damaskus, das nicht in der Lage ist, seine iranischen Helfer zurückzuweisen. Für Iran geht es darum, einen Korridor zu errichten, der Iran mit Südlibanon, Machtbereich des Hizbullah, verbindet.
Ein Landweg würde einige der Schwierigkeiten und Gefahren beheben, denen bisher die Waffentransporte für den Hizbullah ausgesetzt waren. Sie mussten und müssen bis heute nach Syrien eingeflogen und von dort über Land nach Südlibanon transportiert werden. Wenn Israel Informationen über solche Transporte erhält, greift es regelmässig über Syrien mit seiner Luftwaffe ein, um die Transporte zu zerschlagen.
Eine amerikanische Garnison in at-Tanf stellt einen Riegel für einen Korridor dar, der vom schiitischen Südirak nah an der jordanischen Grenze vorbei nach Südsyrien und nach Südlibanon führen würde. At-Tanf liegt auf der Hauptverkehrsader von Osten nach Westen, der asphaltierten Strasse, die in Friedenszeiten Bagdad mit Damaskus verbindet und auch eine Abzweigung nach Amman aufweist.
Hizbullah als Hilfskraft mobilisiert
Die iranische Agentur Fars, die den Revolutionswächtern nahe steht, meldete, 3‘000 Kämpfer des Hizbullah würden in die Badia gesandt, um der syrischen Armee und deren Verbündeten zu helfen, „die amerikanische Intrige zu vereiteln und um Sicherheit auf der Strasse zwischen Bagdad und Palmyra zu schaffen“. Die Meldung spricht nicht von iranischen Kräften. Doch darf man vermuten, dass die Revolutionswächter den geplanten Einsatz von Hizbullah steuern und vielleicht auch aktiv zu ihm beitragen werden.
Ringen um die Wüste rund um Palmyra
Die weiter nördlich verlaufende Strasse von Bagdad nach Palmyra und von dort nach Damaskus steht zur Zeit unter dem Druck der IS- Kämpfer. Sie wurden zwar aus Palmyra vertrieben, doch zogen sie sich in die Wüste zurück und blieben dort weiterhin aktiv.
Neuerdings scheinen IS-Kämpfer aus Rakka zu ihnen gestossen zu sein, die aus Rakka abgezogen worden waren, bevor die Belagerung der syrischen Hauptstadt des IS ernsthaft begann. Am 31. Mai meldeten die Russen, sie hätten IS-Kämpfer im Raum von Palmyra mit Raketen beschossen, die von zwei ihrer Kriegsschiffe vor der syrischen Küste abgefeuert wurden. Am 2. Juni wurde gemeldet, die syrische Luftwaffe habe im gleichen Raum Einheiten des IS bombardiert, die aus Rakka dorthin geflohen seien. Offenbar geht es für Damaskus und für Moskau darum, zu verhindern, dass der IS nach Rakka in der syrischen Wüste neue Widerstandsnester aufbauen kann.
Rakka Ziel der amerikanischen Seite
Die Umzingelung und Belagerung von Rakka selbst überlässt Damaskus wohl oder übel den von den Amerikanern mit Waffen und auch direkt aus der Luft und zu Land unterstützten Kräften der SDF (Syrischen Demokratischen Kräfte), deren kampfstärkste Einheiten und leitende Offiziere aus syrischen Kurden bestehen. Damaskus konzentriert sich deshalb darauf, möglichst viel vom zur Zeit noch vom IS besetzten Gelände ausserhalb Rakkas unter seine Herrschaft zu bringen. Die Russen helfen Damaskus dabei. Doch ihre Hilfe geht nicht so weit, dass sie gewillt wären, Zusammenstösse mit den Amerikanern zu riskieren.
Doch eine amerikanische Sicherheitszone
Man kann at-Tanf als eine de facto bestehende amerikanische Sicherheitszone auf syrischem Hoheitsgebiet sehen. Das Pentagon hat unzweideutig erklärt, dass es diese Zone zu verteidigen gedenkt, wenn sie angegriffen würde. Damit ist der alte Vorschlag von Sicherheitszonen, für den die Türken jahrelang warben, während die Amerikaner unter Obama ihn als allzu gefährlich ablehnten, verwirklicht worden, allerdings an der südlichen Grenze Syriens, nicht an der nördlichen, wie es Erdogan vorschwebte.
Es ist auch keine „Zone“ geworden, sondern bloss ein „Flecken“. Doch handelt es sich, wie der russische Aussenminister betonte, ohne Zweifel um einen Übergriff auf syrisches Territorium und damit um eine rechtlich gesehen illegale Präsenz der Amerikaner „in Syrien“, welche diese, falls angegriffen, mit Waffengewalt zu halten versprechen.
Isolierungstaktik der pro-syrischen Seite
Vorläufig sieht es so aus, als gedächten die syrischen Truppen und deren Hilfsmilizen die amerikanische „Garnison“ eher zu isolieren und zu umgehen, statt einen Angriff auf sie zu wagen. Doch man muss mit den Iranern neben den Syrern rechnen. Für sie wäre es wichtig, die amerikanische Präsenz auszuschalten, um ihren Ost-West-Korridor einzurichten. Und genau dies dürfte auch einen Grund für die Amerikaner abgeben, ihre Garnison in at-Tanf zu halten, sogar wenn – wie es wahrscheinlich ist – die von ihnen ausgebildeten syrischen Rebellen den Wettlauf ins Euphrat-Tal gegen die prosyrischen Kräfte und deren doppelte Luftwaffenunterstützung verlieren sollten.
Freiere Hand für die Militärs unter Trump
Die Schaffung und angezeigte Verteidigung der „Mini-Zone“ an der syrischen Südgrenze zeigt die Verschiebung der amerikanischen Strategie, die sich durch die Ablösung der Obama-Administration durch das Trump-Regime ergeben hat. Ob Trump selbst die Verschärfung der amerikanischen Position ins Auge gefasst und angeordnet hat, ist ungewiss.
Wahrscheinlicher ist, dass sich diese Verschärfung dadurch ergeben hat, dass die Trump-Administration dem Pentagon und den amerikanischen Offizieren vor Ort grössere Handlungsfreiheit gewährt, als dies unter Obama der Fall war. Diese grössere Handlungsfreiheit ist überall in den amerikanischen Eingriffen in Syrien und im Irak sichtbar. Mehr Sondertruppen zu Land werden eingesetzt und greifen aktiver in die Kämpfe ein. Bei den Luftschlägen wird eher in Kauf genommen, dass dadurch auch Zivilisten zu Schaden kommen. Bei at-Tanf dürfte es diese Handlungsfreiheit sein, die dazu geführt hat, dass es nun doch eine Art von amerikanischer Sicherheitszone auf syrischem Boden gibt, deren Verteidigung im Fall eines Angriffs das Pentagon offiziell übernommen hat.