Guatemala gehört zu den Ländern mit den meisten politischen Morden. Das weiss auch der aussichtsreiche sozialdemokratische Kandidat Bernardo Arévalo, der der korrupten Machtelite und dem organisierten Verbrechen den Kampf angesagt hat. Arévalo tritt mit kugelsicherer Weste auf, fährt in einem gepanzerten Auto und ist umgeben von einem Heer von Bodyguards und Polizeibeamten. Die kürzliche Ermordung des regimekritischen ecuadorianischen Präsidentschaftskandidaten ist ihm eine Warnung.
Doch die Angst vor einem Attentat ist nur eine der Sorgen, die den gemässigten Sozialdemokraten umtreibt. Denn längst ist nicht sicher, ob er – auch wenn er die Wahl gewinnt – Präsident werden wird. Und die Wahl wird er vermutlich gewinnen. In einer am Freitag von «Prensa Libre», der grössten guatemaltekischen Zeitung, veröffentlichten Meinungsumfrage kann Arévalo an diesem Sonntag auf 64,9 Prozent der Stimmen hoffen. Zum ersten Mal seit langem treten die Reformkräfte vereint an.
An seine Wahl glaubte niemand
Die korrupten Machthaber im Staat hatten sich total verkalkuliert. Sie hatten alle Kandidaten und Kandidatinnen, die ihnen nicht passten, von der Wahl ausgeschlossen, um ihre Macht abzusichern. Doch Arévalo hatten sie nicht ausgeschlossen, denn an seine Wahl glaubte niemand. In den Meinungsumfragen vor den Wahlen lag er als völliger Aussenseiter abgeschlagen auf einem der letzten Plätze.
Zur kompletten Verblüffung aller erreichte der 64-Jährige dann im ersten Wahlgang am 25. Juni am zweitmeisten Stimmen und nimmt deshalb an der Stichwahl an diesem Sonntag teil. Seine Gegenkandidatin ist Sandra Torres, eine ehemalige First Lady. Sie hat schon zwei Mal versucht, Präsidentin zu werden und gehört zur korrupten guatemaltekischen Oligarchie.
Wenige Stunden nach dem überraschenden Ergebnis versuchten die Machthaber mit Hilfe der Justiz, das Wahlergebnis zu kippen. Die 7. Strafkammer erklärte auf Antrag einer Sonderstaatsanwaltschaft, Arévalo hätte aus formalen Gründen gar nicht an den Wahlen teilnehmen dürfen.
Wie verhält sich das «Kartell der Korrupten»
Dieser Entscheid löste einen Sturm der Entrüstung aus. Auf Druck der USA, der EU und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) gab die Justiz schliesslich klein bei und akzeptierte das Ergebnis – vorerst.
Doch das Thema ist nicht vom Tisch. Parteien müssen in Guatemala mindestens 25’000 Mitglieder haben, um sich als politische Partei zu konstituieren. Die Gegner von Arévalo argumentieren, seine Antikorruptionspartei «Semilla» habe die Mitgliederlisten gefälscht und bis zu 5’000 «falsche» Namen aufgeführt. Arévalos Partei zähle gar nicht 25’000 Mitglieder und habe deshalb gar nicht an den Wahlen teilnehmen dürfen. «Semilla» bestreitet dies.
Die Frage ist nun, wie verhält sich das «Kartell der Korrupten», wie es in Guatemala genannt wird, wenn Arévalo gewinnt.
Koste es, was es wolle
Guatemala ist eines der kriminellsten, korruptesten, ärmsten und unterentwickeltsten Länder der Welt – und eines der schönsten, faszinierendsten und geheimnisvollsten. Seit Jahrzehnten befindet sich der 17-Millionen-Staat in den Klauen einer repressiven Oligarchie, einer herrschsüchtigen Krake, deren Arme bis weit in die Politik, Justiz, Polizei und Armee reichen. Diese Machtelite wird alles versuchen, ihre Privilegien zu behalten – koste es, was es wolle.
Arévalo, ein früherer Diplomat, Soziologe und Schriftsteller, war Botschafter in Spanien und stellvertretender Aussenminister. Er spricht neben Spanisch auch Englisch, Hebräisch, Französisch und Portugiesisch. Er ist der Sohn des reformwilligen, ersten gewählten guatemaltekischen Präsidenten, der Ende der Vierzigerjahre an der Macht war. Arévalo Junior ist ein besonnener Mann. Lange lebte er mit seiner Familie in Genf, wo er für eine gemeinnützige Organisation arbeitete. Er ist kein Populist, der wie alle Populisten der Korruption den Kampf ansagt – und dann nichts unternimmt. Gerade seine Ernsthaftigkeit macht der korrupten Oberschicht Angst.
Sollte er zum Präsidenten gewählt werden, würde er die 55-jährige Karin Larissa Herrera Aguilar, eine Biologin, Soziologin und Professorin, zur Vizepräsidentin machen.
Sicher wird die skrupellose Elite nach einem Sieg Arévalos erneut versuchen, das Ergebnis umzustossen und die Mitgliederlisten von «Semilla» vor Gericht bringen. Sicher auch werden Arévalos Gegner von «Wahlbetrug» sprechen. Doch ob sich das Verfassungsgericht, angesichts der harten Haltung der USA und der EU vor den Karren der Oligarchie spannen lässt, ist diesmal zweifelhaft.
Die Elite zieht alle Fäden
Arévalo hat nicht nur den korrupten Machthabern den «frontalen Kampf» (Prensa Libre) angesagt, sondern ebenfalls dem organisierten Verbrechen und dem Drogen-Kartell. Das macht ihn besonders verletzbar und zum Ziel von Attentätern. Er wäre nicht der erste lateinamerikanische Politiker, der ermordet würde, weil er den Drogenschmuggel unterbinden und gegen die Drogenbosse vorgehen will.
Doch selbst wenn Arévalo sein Amt als Präsident antreten könnte: Die bisherigen Machthaber im Staat würden die Machthaber bleiben. Sie würden dem Präsidenten das Leben zur Hölle machen. Sie ziehen alle Fäden, beherrschen die Wirtschaft, die Polizei, die Armee und grosse Teile der Politik. Arévalo würde es schwer haben, ihre Macht zu brechen. Wenige glauben, dass es ihm gelingen würde, die Grundfesten eines politischen Systems zu erschüttern, das auf Korruption, Straffreiheit krimineller Herrscher und Privilegien einiger Wenigen aufgebaut ist. Also: Es fällt schwer zu glauben, dass in dem geschundenen Land bald wieder die Sonne aufgeht.