In Sanaa sprechen zur Zeit drei politische Gruppierungen, zwischen denen Vermittler pendeln, indirekt miteinander: die Seite des Präsidenten und der Armeeeinheiten, die unter dem Befehl seines Sohnes und dem seines Schwiegersohns stehen; die "Revolutionäre Jugend", wie sie sich selber nennt, die im Universitätsgelände von Sanaa ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat und vom Kommandanten der nördlichen Armeeeinheiten, dem General und Halbbruder des Präsidenten, Mohsen Ali Saleh, gestützt wird, sowie als dritte Gruppierung die einstige parlamentarische Opposition, Islah, eine gemässigt islamistische Partei, die heute ebenfalls den Rücktritt des Präsidenten fordert.
Lokale Machtgruppen fern von der Zentrale
Doch ausserhalb der Hauptstadt kommen die zentrifugalen Kräfte hinzu, welche das Machtvakuum im Zentrum beständig verstärkt. Dies sind die beiden alten mehr oder weniger separatistischen Bewegungen der Huthis im Norden und der Südjemeniten im Süden des Landes, plus Stammeskräfte der unterschiedlichsten Art und Ausläufer von al-Qa'eda, die von der Unsicherheit in den inneren Wüsten des Landes zu profitieren suchen.
Bedingte Rücktrittsbereitschaft
In Sanaa wäre der Präsident offensichtlich bereit zurückzutreten, doch versucht er zäh, die Interessen seiner Familienmitglieder zu retten, die heute führende Stellungen in Armee und Sicherheitskräften bekleiden, während andere wirtschaftliche Schlüsselpositionen einnehmen. Die Revolutionäre Jugend hingegen besteht darauf, dass nicht nur der Präsident abdanke, sondern dass auch seine Familienmitglieder wegen Korruption vor Gericht gestellt würden. Um dies sicher zu stellen, richten sich die jugendlichen Protestgruppen, die auch in allen anderen Städten ausserhalb der Hauptstadt agieren, nach dem tunesischen Vorbild. Sie verlangen, nach dem Rücktritt des Präsidenten müsse ein Präsidialrat von fünf angesehen Persönlichkeiten gebildet werden. Dieser habe eine Übergangsregierung zu ernennen, die in sechs Monaten Wahlen vorzubereiten hätte. Auch müssten das Informationsministerium (das heisst die staatliche Zensurbehörde) und der staatliche Sicherheitsapparat aufgelöst werden, und die Gerichtsverhandlungen gegen korrupte Elemente müssten sogleich beginnen. Alle politischen Gefangenen seien zu befreien.
Ein politischer Mittelweg?
Islah versucht eine Mittelposition einzunehmen, der Staatschef solle zurücktreten, doch dürften nicht auf einen Schlag alle Institutionen des Staates demontiert werden. Die Politiker von Islah werben für sich, indem sie den Hauptvermittlern, den Amerikanern und den Saudis, versichern, sie verstünden es besser als der diskreditierte Präsident, die Stabilität des Landes zu gewährleisten respektive wiederherzustellen. Sie erklären auch, die Absetzung des Präsidenten sei schon fast vollendet. Es bedürfe nur noch eines kleinen Anstosses der Amerikaner - kaum mehr als in Ägypten - um der Opposition zu Hilfe zu kommen und die Krise endgültig zu bewältigen.
Provinzen in Eigenregime
Unterdessen drohen jene Provinzen, in denen die Macht der Zentralregierung nie sehr stark war, der Kontrolle von Sanaa ganz zu entgleiten. Die Provinzgouverneure von Jauf, einem Beduinengebiet im Zentrum des Landes, und von Saada im Norden, haben ihre Posten verlassen, offenbar, weil ihr Leben in Gefahr schwebte. Jener von Marib wurde erdolcht, als er versuchte, mit Protestierenden zu diskutieren. In Abyan, an der Südküste östlich von Aden, hat die Polizei einige Distrikte verlassen. Volkskommitees versuchten die Ordnung zu gewährleisten.
Doch es kam am 28. April zu einer Tragödie. Maskierte Bewaffnete drangen in die Hafenstadt Jaar ein, besetzten die dortige Munitionsfabrik, die Kalashnikovs und Munition herstellt. Sie nahmen die gelagerten Waffen an sich und verliessen den Tatort. Doch nach ihnen drangen Teile der Bevölkerung ein und versuchten sich anzueignen, was in der Fabrik noch übrig geblieben war. Dabei kam es zur Explosion eines grossen Pulvervorrats, der zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Die Zahl der Toten soll 140 übersteigen. Auch Frauen und Kinder seien darunter. Genaue Angaben gibt es nicht, weil viele der verbannten Überreste unkenntlich seien. Die vermummten Angreifer waren möglicherweise Leute der Qa'ida, die sich so Waffen verschafften.
Wer ist verantwortlich für das Unglück?
Der Vorfall löste Empörung aus. Er dient allen Seiten als Argument, um ihre Anliegen zu fördern. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, er habe die Abyan Provinz, wie den ganzen Süden, vernachlässigt und verkommen lassen. Manche der Oppositionellen gehen soweit, dem Präsidenten vorzuwerfen, er habe sich heimlich mit der Qa'ida zusammengetan, um Unruhe zu fördern und dadurch nachzuweisen, dass er weiterhin unentbehrlich sei. Dies sind Verschwörungstheorien, die in dem erhitzten Klima leidenschaftlicher Diskussionen besonders gedeihen.
Wer ist am glaubwürdigsten?
Alle drei Seiten, die in Sanaa um die zentrale Macht ringen, versuchen sich selbst als die Gruppe darzustellen, die am ehesten in der Lage sei, Stabilität wieder herzustellen. Die Jungen Revolutionäre haben Vorstellungen davon, wie sie dieses Ziel erreichen wollten, wenn der Präsident und seine Klienten ausgeschaltet würden. Sie sprechen von "Volkskomitees", die in allen Provinzen bereit stünden, die Macht zu übernehmen, wenn das Regime weiche. Sie empfehlen auch "Dialog" mit den Separatisten des Südens und den zaiditischen Autonomie Befürwortern im Norden. - Die Leute von Islah, unter denen der bedeutende Oberscheich der Hasched Föderation, al-Ahmar, eine führende Rolle spielt, pochen auf ihre politische Erfahrung. - Der belagerte Präsident erklärt sich bereit, seine persönliche Macht aufzugeben, jedoch nicht den Sturz des von ihm aufgebauten Regimes zuzulassen, solange keine Sicherheit für das Fortbestehen des Landes gewährleistet sei. Er sei bereit, zu gehen, sobald eine Regierung die Macht übernehme, die in der Lage sei, Sicherheit zu garantieren, aber nicht vorher.